Einmal die „Hauptstraße“ Lingens
von Joachim Schulz
Der Heimatverein Lingen hatte zu einem historischen Spaziergang durch die Große Straße eingeladen. Dr. Ludwig Remling führte eine interessierte Schar durch die ehemalige »Hauptstraße« Lingens. Die Große Straße wurde zusammen mit dem Marktplatz wahrscheinlich zur Zeit der ersten Stadtbefestigung erbaut. Sie war für mittelalterliche Verhältnisse mit etwa zehn Metern Breite großzügig bemessen. Die Große Strasse erhielt sehr regelmäßig aufgeteilte Grundstücke, die ebenfalls etwa 10 m breit waren. Darauf wurden giebelständige Häuser mit schmalen Traufgassen errichtet die heute meist noch erhalten und in Benutzung sind.
Straße der Kleinhändler
Die Große Straße war zunächst eine Kleinhandelsstraße der Handwerker. Die Häuser wurden über einen Mittelflur erschlossen. Zur Straße lag auf der einen Seite die Werkstatt, der sich nach hinten ein oder zwei Nebenräume anschlossen, auf der anderen lag zur Straße die große Wohnstube, gefolgt von kleinen Kammern. Während die Häuser zur Straße hin mit der Giebelfassade einen repräsentativen, zumindest geordneten Abschluss fanden, blieb ihre Rückseite meist ungeordnet. Dort gab es Nebengelasse und Stallungen für Kleinvieh, die oft einige Stufen höher lagen, eine geringere Höhe hatten und deren Decke in gleicher Höhe mit der des Vorderhauses verlief. Es gab meist nur einen Kellerraum, der mit einem Gewölbe überdeckt war und nur eine sehr geringe Höhe hatte. Der Raum darüber, die so genannte »Upkammer«, lag um einige Stufen höher.
Erste Ladenfenster zur Jahrhundertwende
Zunächst bestellte man hinter den Häusern noch kleine Gärten. Sie verschwanden nach und nach, als weitere Werkstätten und Lagerräume angebaut wurden. Später wurden sogar in die Nutzung von der Großen Straße einige Häuser der Schlachterstraße und der Kirchstraße mit einbezogen, so dass diese noch mehr den Charakter von Hinterstraßen annahmen. Bei der kurz vor der Jahrhundertwende einsetzenden Veränderung der Häuser wurde zunächst zur Straße hin das Fenster der Werkstatt zu einem Ladenfenster vergrößert. Später wurde der Mittelflur mit in die Ladenfläche einbezogen, aus dem Wohnraum wurde ein Kontor. Bei diesem Stand des Umbauens wurde es erforderlich, die eigentlichen Wohnräume ins Dachgeschoß zu verlegen, das bislang nur kleine Kammern oder auch nur Speicherräume gehabt hatte. Das hatte wiederum zur Folge, dass die geringe Höhe dort nicht mehr ausreichte. Man musste aufstocken, d.h. das Obergeschoß voll ausbauen und darüber ein neues Dachgeschoß mit Nebenräumen errichten.
Giebel verlieren ihr ursprüngliches Gesicht
Tiefgreifende Veränderung erlebten die Häuser in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem letzten Krieg. Um eine freie, durchgehende Ladenfläche zu schaffen, wurden im ganzen Erdgeschoß alle Innenwände herausgerissen und nur die notwendigen Stützen, Schornsteine und Treppen belassen. Wenn gleichzeitig die Ladenfronten in schmale Stützen und Glas aufgelöst wurden, verloren die Fassaden darüber ihren Halt, und der Charakter der alten Bürgerhäuser ging völlig verloren. Das heute einsetzende Bemühen, die alten Fassadenstrukturen möglichst wiederherzustellen, zu große Schaufensterflächen zu verkleinern und alte Fensterteilungen zu rekonstruieren, kann man nur begrüßen.
Schicksal jüdischer Geschäfte
Während der NS-Zeit hieß die Große Straße „Hindenburgstraße“. Mitte der zwanziger Jahre gab es an der Nordseite der Großen Straße nebeneinander drei jüdische Geschäfte. Es waren das Haus Nr. 7 von Siegmund Hanauer mit einem Manufaktur- und Modewarengeschäft und das Haus Nr. 9 von Hieronymus Hanauer & Söhne, Herrenbekleidung und Schuhwaren. Die beiden Geschäfte Hanauer in der Großen Straße Nr. 7 und Nr. 9 schlossen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage gegen Ende der Weimarer Republik. Das Foto zeigt Inhaber und Mitarbeiter des Geschäftes Hieronymus Hanauer & Söhne, Große Straße 9, in den zwanziger Jahren.
Fredy Markreich bewohnte Haus Nr. 11
Das Haus Nr. 11 beinhaltete ein Geschäft mit Manufakturwaren, Textilien und Schuhen. Das Geschäft Aron Markreich führte seit dem Tod seiner Eltern der unverheiratete Fredy Markreich. Er war ein stadtbekanntes Original und stets zu Späßen aufgelegt. In sein Geschäft drangen am frühen Morgen des 10. November 1938 Lingener SA-Männer gewaltsam ein. Sie schlugen die Schaufensterscheiben ein, warfen die Geschäftsbücher auf die Straße und entwendeten eine Geldkassette. Die Waren wurden beschlagnahmt und am folgenden Tag der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) zugeführt. Fredy Markreich selbst wurde als einer der ersten Lingener Juden verhaftet und ins Polizeigefängnis beim Amtsgericht eingeliefert. Nachdem er im Laufe des Tages den Verkauf seines Geschäftshauses vor einem Notar auf der Grundlage bereits früher mit seinem Nachbarn getroffener Vereinbarungen zu Protokoll gegeben hatte, wurde er am 11. November von der SS abgeholt und in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar eingeliefert. Dort blieb er mehrere Wochen inhaftiert. Im April 1939 gelang es ihm nach Liberia in Westafrika auszuwandern, wo sich seine Spur verliert. Das Foto zeigt Fredy Markreich mit seinem Schäferhund Anfang der dreißiger Jahre.
Panzer korrigiert Grundriss
Das letzte Haus rechter Hand an der Ecke Große Straße / Kivelingstraße entstand nach der Inschrift am Giebel um 1650. Über einem kleinen und schiefwinkligen Grundriss entstand ein Fachwerkhaus mit ausgesprochen romantischem Charakter. Dieser Charakter ging auch nicht verloren, als 1945 ein englischer Panzer in die Ecke fuhr und der Giebel wegen der Straßenverbreiterung, deren Notwendigkeit der Panzer eindrucksvoll bewiesen hatte, leicht verändert, um drei Meter zurückversetzt, wiederaufgebaut wurde. Beim Wiederaufbau erhält der Giebel leider zwei zu große Ladenfenster, auch wird die reizvolle Asymmetrie der beiden Dachgeschoßfenster „korrigiert“.
Quelle:
Köster, Baldur, in Architektur im Wandel, Berlin 1988
Remling, Ludwig, Dr., in Lingen im Nationalsozialismus, Lingen 2003
Die farbigen Fotos entstanden während des historischen Spazierganges mit Dr. Ludwig Remling im September 2008