Kennen tat mich niemand mehr in Lingen…
Erinnerungen an die Familie Hülster in Lingen
von Dr. Andreas Eiynck, Leiter des Emslandmuseums Lingen
Im Laufe der Jahrhunderte kamen viele Familien von außerhalb und haben hier Geschichte geschrieben. Bekannt sind etwa die zahlreichen reformierten Familien aus der Grafschaft Bentheim und aus Holland, die sich in Lingen ansiedelten: die Koke, die Goosmann oder die Klukkert. Weniger bekannt sind die katholischen Familien, die eine Ansiedlung in der einst protestantisch dominierten Stadt Lingen wagten. Zu ihnen zählte die heute in Lingen längst vergessene Familie Hülster. An diese Familie erinnert in Lingen nur noch ein Grabstein auf dem Alten Friedhof, der Familiendaten aus einem Zeitraum über zweihundert Jahren enthält – von 1798 bis 1999, war zumindest ungewöhnlich ist. Ungewöhnlich, wie das Schicksal dieser Familie, über die im folgenden berichtet werden soll.
August Hülster
Der Stammvater August Hülster kam 1820 nach Lingen. Anlaß war die Umwandlung der Lingener „Akademie“, einer Hochschule calvinistischer Prägung, in ein staatliches Gymnasium. Die Regierung hatte damals festgelegt, dass eine der beiden zusätzlichen Lehrerstellen auf jeden Fall mit einem Katholiken besetzt werden sollte, um so die Attraktivität der neuen Bildungsanstalt für die Söhne der katholischen Bevölkerungsmehrheit zu erhöhen. Die Findung eines geeigneten Kandidaten gestaltete sich aber unerwartet schwierig. Da man die Stelle aber möglichst umgehend besetzen wollte fiel die Wahl schließlich auf den noch recht jungen Kandidaten August Hülster. Er stammte aus Osnabrück (*12.4.1798), hatte dort eine pädagogische Ausbildung am Gymnasium Carolinum absolviert und wurde nach einer Prüfung durch die Schulkommissare Heidekamp und Wolper auf die Stelle des 2. Collocators in Lingen berufen. Hier unterrichtete er die unteren Klassen in der lateinischen und der deutschen Sprache, Kalligraphie (Schönschrift) und Kopfrechnen, Geographie und Naturgeschichte sowie in katholische Regionslehre. Fast 50 Jahre war Hülster als Lehrer am Georgianum tätig und wurde schließlich 1867 mit der Beförderung zum Oberlehrer in den Ruhestand versetzt. Er starb am 10.3.1887 in Lingen, sein Grab befindet sich bis heute auf dem Alten Friedhof.
Heirat mit Theresia Eugenie Louis Noury
Kurz nach seiner Anstellung in Lingen heiratete August Hülster im Jahre 1823 Theresia Eugenie Louise Noury (* s’Heerenberg 10.5.1799, + Lingen 16.2.1880). Aus dieser Ehe ging die weitverzweigte Familie Hülster hervor. Merkwürdiger weise zog es gleich mehrere der Hülster-Kinder in die Niederlande.
Tochter heiratet reichen Kaufmann Pott
Der Sohn Johann Heinrich August ging nach Amsterdam, um dort sein Glück zu machen. Er heiratete dort eine aus Köln stammende Deutsche, Anna Esser aus Köln. Ein Jahr später wurde der erste Sohn, Heinrich, geboren, doch Mutter und Kind starben schon bald darauf. Zwei Jahre später ging Johann Heinrich August in Amsterdam eine zweite Ehe ein mit der aus Neuss stammenden Catharina Bertha van Woringen. Der einzige Sohn aus dieser Ehe, Wilhelm August Hülster (* Amsterdam 29.5.1861) betrieb dort ein Photoatelier, aus dem noch verschiedene Aufnahmen in Familienalben der Verwandtschaft erhalten geblieben sind. Der Vater Johann Heinrich August Hülster ließ sich nach dem Tode seiner Frau (+ Amsterdam 23.5.1874) später als Handelsagent in Aachen nieder.
Die Tochter Mathilde Hülster (* Lingen 1826, + Freren 1909) heiratete 1858 in Lingen den Kaufmann und Kunstmaler Heinrich Josef Gabriel und ging mit ihm nach Amsterdam.
Die Tochter Adelheid als Schwester Norbertine in das Kloster Hillichum bei Haarlem ein.
Sophie, die jüngste Tochter, blieb als unverheiratete Haustochter bei ihren Eltern in Lingen. Johanna Josepha, die älteste der Geschwister Hülster, heiratete 1854 den vermögenden Kaufmann Anton Pott aus Freren. Sie hatte damit finanziell ausgesorgt und nahm später sogar mehrere ihrer Verwandten im Hause Pott in Freren auf.
Leo Hülster steigt in Bierbrauer-Dynastie ein
Doch auch ihr Bruder Leo Hülster machte zunächst eine gute Partie. Er heiratete 1859 eine Eugenie Seipgens aus Roermond. Sie stammte aus einer vermögenden Bierbrauer-Dynastie in Roermond. Da ihr Bruder Emil Seipgens es vorzog, Schriftsteller zu werden, übernahm Leo Hülster den Brauereibetrieb seiner Schwiegereltern. Mit dem Geschäft ging es aber schon bald bergab und schließlich kam es zum Konkurs, der den Verlust des gesamten Vermögens nach sich zog. Vermutlich völlig mittellos zog die Familie in der Zeit um 1870 nach Groningen und waren später in Brüssel ansässig, wo Leo Hülster um 1879 im Alter von gerade 55 Jahren unter Hinterlassung von acht Kindern verstarb.
Neun Kinder werden auf die Verwandtschaft verteilt
Die neun minderjährigen Kinder – das jüngste wurde erst nach dem Tod des Vaters geboren – fanden zunächst Aufnahme bei den hochbetagten Großeltern in Lingen. Sie verloren aber bald darauf 1882 auch noch die Mutter. Da die Großeltern für eine Erziehung der Kinder wohl schon zu alt waren wurden sämtliche Geschwister Hülster auf die Verwandschaft verteilt, wobei zwei der Söhne von den Verwandten in Lingen aufgenommen wurden, währende einige der Töchter offenbar zu den Verwandten nach Freren zogen. Sie heirateten später in die angesehenen Familien Kerkhoff und Schmidt in Lingen ein.
Nach dem Tod der Großeltern in Lingen entschloß sich der mittlerweile wohl volljährige Sohn Carl, genannt Charles, 1884 für eine Tätigkeit im niederländischen Kolonialdienst in Ostindien. Er gründete dort eine Familie und kehrte nach seiner Pensionierung nach Europa zurück, doch darüber später.
Auf abenteuerlichem Weg nach Ostindien
Sein jüngerer Bruder Eugien (geb. 1872 in Groningen) sollte in die USA ausreisen und dort von einer Verwandten aufgenommen werden, die ihm auch das Geld für die Überfahrt schickte. Die Ausreise verzögerte sich aber immer wieder, da Emil noch nicht volljährig war und man ihn ohne Begleitung nicht ausreisen lassen wollte. Als er schließlich, insgesamt fast zwei Jahre verspätet, in Amerika ankam, erfuhr er dort, dass seine Verwandte mittlerweile verstorben war.
Er schrieb dann an seinen Bruder Charles in Ostindien, er möge ihm Geld für die Rückfahrt senden. Das Geld kam auch in New York an, konnte aber nicht ausgezahlt werden, da Eugien immer noch minderjährig war. Schließlich bot sich ein Bekannter an, die Summe für ihn abzuheben. Als das Geld in bar ausgezahlt war, schlug der Bekannte vor, auf diesen Erfolg doch erst einmal in eine Kneipe zu gehen und darauf zu trinken. Doch der gewitzte Eugien Hülster türmte durch das Toilettenfenster – sein Bargeld in der Tasche – und fuhr per Eisenbahn nach San Franzisko, um von dort aus zu seinem Bruder zu gelangen. Per Schiff kam er von dort bis Japan, wo ihm offenbar die Mittel ausgingen. Unter unbeschreiblichen Bedingungen – so wird es in der Familie tradiert – mußte er sich dort längere Zeit durchschlagen, bis er schließlich Jahre später seinen Bruder auf der Insel Java erreichte.
Eugien Hülster blieb in Niederländisch Ostindien und wurde dort Kolonialbeamter bei der Zollverwaltung. 1905 bekam er eine Tochter von einer Chinesien namens Theng King Nio. Er erkannte die Vaterschaft an, gab dem Kind den Namen Dora Hulster und sorgte für eine standesgemäße Erziehung im europäischen Stil. Nach seiner Pensionierung kehrte Eugien Hülster nach Europa zurück und ließ sich in Den Haag nieder. Dorthin zog nach dem Zweiten Weltkrieg auch seine Tochter, die 1999 verstarb und auf der Grabstätte Hülster in Lingen ihre letzte Ruhestätte fand.
Charles Hülster kehrt 1920 zurück
Charles Hülster war in den 1920er Jahren nach seiner Pensionierung nach Europa zurückgekehrt. Da in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg die Wirtschaftskrise grassierte, ließ er sich in Belgien nieder und konnte dort von seiner holländischen Pension offenbar ganz gut leben. Er nutzte die Zeit zu längeren Reisen zu seiner ausgedehnten Verwandtschaft in Deutschland und kam so im Frühjahr 1928 auch nach Lingen. Dort überkamen ihn die Erinnerungen an seine Jugendzeit in Lingen, die damals schon über 50 Jahre zurücklag, und er verfaßte hierüber sowie über seine aktuellen Erlebnisse in Lingen einen längeren Brief, der in einer Abschrift überliefert ist:
Meine lieben Geschwister und meine liebe Theodore
last mich Euch nun von meiner weiteren Reise erzählen. Acht Tage war ich in Lingen, im alten Hotel Hüvet, jetzt Hotel Heeger, als fast einziger Gast. Vom Bahnhof gehend erblickte ich zunächst wieder das Thor, das Haus wo man unten durchgehen muss, um in die Stadt zu kommen, und erinnerte mich, den selben Weg gegangen zu sein, als sechsjähriges Kind mit unserem Bruder August, mit Vater und Großvater. Alles links und rechts vom Wege war da nach Wiese. Wir kamen von Roermond, Großvater holte uns von der Bahn ab, und ich konnte nur nicht begreifen, wie Großvater so gar keine Notiz nahm von dem hölzernen Gewehrchen, das ich in der Hand trug, und das in meinen Kinderaugen doch durchaus keine bedeutungslose Waffe war. In Lingen wie in Freren sollte ich noch häufig an unseren lieben Bruder August erinnert werden.
Und da sah ich mit einmal den Marktplatz mit dem Rathaus, alles so ziemlich im Zustand, wie unser lieber Vater es in seinen Kinderjahren bekannt hat. Ich war am Ort, wo die Kinderschritte unseren lieben Vaters stehen, seine Kinderschritte bis zum 14 Jahr, denn da mußte der arme Mann schon hinaus in die Fremde! Hätte ich ihn sehen können! Die ganze Reihe der Verwandten trat mir vor den Geist; ich brauche nicht zu sagen, dass ich unter einem starkten Eindruck stand, als ich den kleinen friedlichen Ort wieder sah. Vom Marktplatz mit Rathaus habe ich eine Photographie machen lassen, wovon ich Euch je ein Exemplar senden werde, sobald wie ich sie erhalte.
Dass großelterliche Haus [Große Straße 20, heute Schuhhaus Albers] war unten nicht wieder zu erkennen, auch innen war es vollständig geändert, der Garten verschwunden, doch das obere Stockwerk an der Vorderseite ist geblieben. Ich bekam Erlaubnis, hinaus zu gehen und habe unserer lieben Mutters Sterbezimmer wiedergesehen.
Dreimal Tages war ich auf dem Kirchhof, wo ich die Gräber schändlich vernachlässigt fand. Die Gräber sind zwar Eigentum, doch können, so niemand sich mehr darum kümmert, nach Bekanntmachungs in der Zeitung umgegraben und andern vergeben werden. Bereits hatte sich der Eigentümer des benachbarten Grabes um das unserer Großeltern bemüht [die bis heute erhaltene Grabstätte Hülster auf dem alte Friedhof). Ich habe eingegriffen, die Fundierung des Gittrs vom großelterlichen Grab, die eingesunken war, heben lassen, das Gitter reparieren und neu, schwarz mit silber, anstreichen lassen, einen schönen Stein von schwarzem schwedischen Marmor mit den Namen, Geburts- und Sterbedaten anbringen lassen, daneben zwei schöne Wacholder pflanzen und ein Beet anbringen lassen. …
Aus alter Erinnerung habe ich selbstredend auch die Wilhelmshöhe besucht, wo ich mit unserer lieben Großmutter und allen anderen Verwandten in meiner Jugend einen zweiten Ostertag gewesen bin. Es ist da ein Bach, worin kleine Fische. Unser lieber Vater hatte einen gefangen, für August und mich; es muß im Jahre 1866 gewesen sein. Vor Freude sprangen wir kleinen Kinder, Karboutertjes wie wir waren, gegen ihn auf und blieben ihm am Rock hängen, dass er krachte. Ich habe die Stelle noch gesucht. Unser Bruder August, wo ist er geblieben?
Kennen tat mich niemand mehr in Lingen, unser Name ist auch schon ziemlich in Vergessenheit und nur mehr bei alten von Tagen bekannt. Bloß der alte Herr Schmidt ist noch da, den ich selbstredend wiederholt besuchte. Geist ist er noch gut, doch gehen kann er nicht mehr. Er, wie seine Töchter, erkundigten sich mit vielem Interesse nach Euch allen, und ich dürfte ja nicht vergessen, Euch alle recht herzlich von ihm zu grüßen.
In Freren, wo ich im Hotel Roth logierte und auch die Mahlzeiten gebrauchte, war ich gleichfalls eine Woche. Durch die Verwandten wurde ich herzlich empfangen und begrüßt. Gerhard Holtmann [der Stiefonkel des Schreibers] ist krank, meiner Meinung nach ernstlich. Er leidet an Aderverkalkung in der Herzgegend. Ob er noch lange leben wird?? Einen mürrischen Mann, wie früher, traf ich nicht mehr in ihm an. Er war ruhig und zeigte sogar Humor. Artig war es zu sehen, wie die Kinder mit ihrem Vater und der Vater mit seinen Kindern umging. Morgens gegen zwölf Uhr und Mittags gegen fünf Uhr habe ich ihn regelmäßig besucht, worüber er sich immer freute. Mit dem Wetter traf ich es in Freren schlecht, doch beharrlich bin ich des ungeachtet herumspaziert, nach dem Gut Hange, den Hünengräbern, der Teufelsküche, Thüne usw., treulich begleitet durch unsere Cousine Lilly Holtmann. Von allen, ohne Ausnahme, habe ich den besten Eindruck bekommen. Am letzten Sonntag haben die Verwandten mich zum Essen eingeladen, während ich inzwischen zu vier Uhr wiederholt auf Jan Hinnerk mit Waldbeeren und Pumpernickel eingeladen wurde.
Zwar sind in Freren verschiedene neue Häuser gekommen, so dass das Pottsche Haus nicht mehr das einzige ist, bei dem das Dach nicht tiefer wie die Türe hängt. Im großen und ganzen ist aber alles doch geblieben, wie ich es vor 52 – 56 Jahren bekannt habe. Zurück in Lingen fühlte ich mich wieder in einer Stadt!
In Roth’s Hotel fand ich angenehme Unterhaltung mit verschiedenen Herren. Es war das wirklich gut, und denket Euch, Logie und Mahlzeiten, alles zusammen, kostete nur 7,50 Mark pro Tag.
Leopolt [Pott] besucht mich jeden Abend bei Roth, wo ich ihm reichlich traktiert habe auf Bier, Schnäpschen und Zigarren; glücklich, ohne dass er zuviel bekommen hatte, denn die Verwandten klagten in gemütlicher weise darüber, dass er manchmal zuviel trinkt. Sein Vermögen ist er leider los. Sein Vormund, der Amtsrichter, wollte, dass es in Kriegsanleihen angelegt werden sollte, was „mündelsicher!“ war. Verschiedene schöne Stücke Land und Eigentum hat Gerhard [Holtmann] verwerten müssen, um die Gelder hinblättern zu können. „Wenn er uns nicht hätte“, sagte Gerhard mir, „stände er auf der Straße. Wir behalten ihn, er ist Sohn des Hauses. Ich denke, Gott wir es Dir lohnen.“ Der Herr, unser Gott, lohnt die Werke der Barmherzigkeit!
Wie ich nach Lingen zurück ging, ist Leopold im Postauto mitgefahren. Da haben wir zusammen spaziert, noch manches Gläschen getrunken und zu Abend gegessen. Als Erinnerung an unseren Ausflug schenkte ich ihm noch eine lange deutsche Pfeife, der er gerne haben wollte, die beste, die zu haben war, mit schönem Weichselrohr, worüber er sich freute. Um 8 Uhr 20 habe ich ihn wieder zum Postauto begleitet, mit Empfehlung an den Chaffeur, dafür sorgen zu wollen, dass der Herr unterwegs nicht irrtümlich aussteigt, wie ihm bei anderer Gelegenheit passiert sein soll. Der letzte der Familie Pott, der arme Junge! Es freut mich, dass die Verwandten gut zu ihm sind, wie ich mich dessen so ziemlich habe überzeugen können.
Von Lingen bin ich nach Münster gereist, um dort unsere Verwandten zu besuchen und kennen zu lernen…
Mit mir und mit meinen Kindern ist, soweit ich weis, alles gut.
Von ganzem Herzen
Euer Bruder und Schwager
Charles“
Moresnet, 12. Mai 1928
Link zur Genealogie der Familie Hülster
zu den Quellen:
Die Ahnentafel Pott stammt von Johannes Wedig, Freren. Sie wurde anhand der Frerener Kirchenbücher und des Hausarchives Pott-Holtmann in Freren (jetzt im Emslandmuseum Lingen) erstellt.
Die Ahnentafel Hülster erstellte Dr. Andreas Eiynck anhand von zahlreichen Kirchenbuchauszügen und des Familienarchives Hülster (im Besitz von Dr. Wolf-Dieter Kaser, St. Thönis) sowie zahlreichen weiteren Quellen..