Archivalie des Monats Februar 2024

von Dr. Mirko Crabus

Die Diskussionen im Vorfeld der 1974 durchgeführten Gemeindereform wurden sehr scharf geführt. Lingen befand sich längst an den Grenzen seiner Siedlungskapzitäten, die umliegenden Gemeinden hingegen fürchteten den Verlust ihrer Entscheidungskompetenzen. Während sich die südlichen Gemeinden Darme, Laxten und Brockhausen 1970 freiwillig mit Lingen zusammenschlossen, favorisierten die nördlichen Gemeinden die Bildung einer eigenständigen „Nordgemeinde“.

Im Juni 1971 legte das niedersächsische Innenministerium einen Diskussionsentwurf vor, der  unter anderem empfahl, weitere Eingemeindungen nach Lingen durchzuführen. Unter anderem sollte Schepsdorf-Lohne aufgeteilt werden, sodass Schepsdorf mit Lingen und Lohne mit Wietmarschen, Wachendorf und Schwartenpohl zusammengelegt werde. Das stieß jedoch auf breite Kritik. Auch der Landkreis Lingen reagierte ablehnend. Lingen stimmte dem Entwurf zu, musste sich aber den Vorwurf gefallen lassen, damit den Fortbestand des Kreises Lingen zu gefährden. Schließlich hätte Lingen dann über die Hälfte aller Kreiseinwohner eingemeindet. Im September 1971 verabschiedete der Kreistag einen Gegenentwurf zum Diskussionsvorschlag. Demnach sollte Schepsdorf-Lohne ungeteilt mit Wachendorf und Schwartenpohl zusammengehen und Altenlingen mit Lingen, während nördlich von Lingen die besagte Nordgemeinde zu bilden sei. Einen Monat später hatten die Gemeinden bei einer Anhörung auf der Wilhelmshöhe die Gelegenheit, gegenüber dem niedersächsichen Innenministerium Stellung zum Diskussionsentwurf zu beziehen. Dabei kam es zu einem harten Schlagabtausch zwischen Lingen, den Nordgemeindekandidaten und Schepsdorf-Lohne. Demonstrationen in den nördlichen Gemeinden forderten in Sprechchören „Wir wollen die Nordgemeinde“.

Ein Jahr später, im November 1972, legte das Innenministerium einen Referentenentwurf über die Neuordnung im Raum Grafschaft Bentheim/Lingen vor, der weitere Eingemeindungen nach Lingen vorsah, neben den Samtgemeinden Baccum und Bramsche auch Altenlingen, Brögbern, Clusorth-Bramhar, Holthausen und Schepsdorf. Außerdem sollten sich Wachendorf, Schwartenpohl, Wietmarschen und Lohne zusammenschließen und – zumindest bis zur anstehenden Kreisreform – zum Landkreis Lingen gehören. Die Reaktionen in der Region waren erwartungsgemäß unterschiedlich. Der Kreistag lehnte die Teilung von Schepsdorf-Lohne ab und favorisierte nach wie vor eine Großgemeinde Holthausen. Lingen hingegen reagierte zustimmend, obwohl dies eine Verzögerung des Zusammenschlusses mit Bramsche und Baccum bedeutete. Allerdings hatte sich bereits im Mai ein Planungsverband Lingen-Umland gegründet, an dem sich nicht nur Lingen, Bramsche und Baccum beteiligten, sondern auch Altenlingen.

Als der Entwurf im Mai 1973 im Landtag beraten wurde, kam es in Schepsdorf zu massiven Protesten mit über 2000 Teilnehmern. Im Juni demonstrierten erneut rund 500 Schepsdorfer auf dem Lingener Marktplatz. Mit Sitzstreiks wurden die Fahrbahnen blockiert, es kam zu Handgreiflichkeiten mit Polizisten, und einzelne versuchten gewaltsam in das neue Rathaus einzudringen. Schließlich wurde die Demonstration von der Polizei aufgelöst. Dessen ungeachtet passierte das Gesetz am 15. Juni den Landtag, und am 3. Juli erlangte der Neugliederungsplan Grafschaft Bentheim/Lingen Gesetzeskraft. Es war eines der letzten Gesetze zur niedersächsischen Gemeindereform. Im Kreis Lingen bestanden damit neben der Stadt Lingen nur noch die Einheitsgemeinden Emsbüren, Salzbergen und Wietmarschen sowie die Samtgemeinden Freren, Lengerich und Spelle.

Mit den einzugliedernden Gemeinden Altenlingen, Brögbern, Clusorth-Bramhar, Holthausen und Schepsdorf nahm die Stadt Lingen nun Verhandlungen auf. Im Dezember 1973 traten sie dem Planungsverband Lingen-Umland bei, und am 6. Februar 1974 schlossen sie ähnliche Gebietsänderungsverträge ab wie schon zuvor Darme, Laxten, Bramsche und Baccum. Auch hier sollten Ortsräte eingerichtet werden, und Lingen verpflichtete sich, die Weiterentwicklung der neuen Ortsteile voranzutreiben. Zum 1. März 1974 trat die Gemeindereform endgültig in Kraft. Auch Bramsche und Baccum, die sich ursprünglich schon 1972 anschließen wollten, gehörten fortan zu Lingen. Lingens Einwohnerzahl stieg damit von 34.400 auf 46.500. Das Stadtgebiet vervierfachte sich von 3.965 auf 15.833 ha. Die Aufgaben des Stadtrates wurden fortan von einem Interimsrat wahrgenommen, in dem auch die je ein bis drei Vertreter der Ortsteile saßen. Wie vertraglich zugesichert, wurden nun auch die Ortsräte eingerichtet. Nicht zuletzt galt es nun, doppelte Straßennamen zu ändern. Eine letzte Korrektur der Gemeindegrenzen erfolgte 1978. Wachendorf und Herzford wurden von Wietmarschen abgetrennt und ebenfalls Lingen zugeschlagen. Erst damit fand die Gemeindereform ihren endgültigen Abschluss.

Obwohl die Gemeindereform bei ihrer Umsetzung hochgradig umstritten war, so wird sie sich doch als entscheidende Voraussetzung für die weitere Entwicklung erweisen. Die Art und Weise, in der die Eingemeindungen erfolgten, hat Geschichte geschrieben. Die Gebietsänderungsverträge werden zum Teil wörtlich in die niedersächsische Gemeindeordnung übernommen. Und auch die Ortsräte werden sich bewähren. Auf ihre eigentlich geplante Abschaffung nach zehn Jahren wird man deshalb verzichten. So unterschiedlich die Interessen der verschiedenen Nachbargemeinden auch gewesen sein mögen, vor ihnen lag nun eine gemeinsame Zukunft. 1975 beteiligten sich sämtliche neuen Ortsteile an der 1000-Jahr-Feier der Stadt, und zum 25. Jahrestag der Gemeindereform 1999 zogen Oberbürgermeisterin Ramelow und die Ortsbürgermeister gleichermaßen eine positive Bilanz.

Quellen und Literatur:

  • Stadtarchiv Lingen, Bildersammlung, Nr. 46.
  • Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung.
  • Stadtarchiv Lingen, Lingener Tagespost.
  • Brümmer, Karl-Heinz: Entstehung und Entwicklung des Landkreises Emsland. Herausgegeben von Edith Brümmer, Lingen 1992.
  • Danielzyk, Rainer/ Wiegandt, Claus-Christian: Raumordnung im Emsland nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 32 (1986), S. 243-268.
  • Dust, Wolfgang: Die geographische Gliederung der Stadt Lingen in ihrer historischen Entwicklung, Münster 1974.
  • Tiedeken, Hans: Die Gemeindereform im Emsland. Die emsländischen Gemeinden vor und nach der Gebietsreform, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 21 (1974/75), S. 115-132.
  • Schüpp, Heiner: Gebiets- und Verwaltungsreform, in: Franke, Werner e.a.: Der Landkreis Emsland. Geographie, Geschichte, Gegenwart. Eine Kreisbeschreibung, Meppen 2002, S. 528-552.
  • Schüpp, Heiner: Vor 25 Jahren. Gemeindereform im Emsland, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 43 (1997), S. 94-106.
  • Vehring, Karl-Heinz: Die Stadt Lingen (Ems) nach der kommunalen Gebietsreform, in: Kivelingszeitung 1975, S. 17-18.
  • Vehring, Karl-Heinz: Lingen. Zentrum einer Region. Strukturwandel und Modernisierung, Düsseldorf und Lingen 2013.

Abb. 1: Der Interimsrat mit Vertretern aller Ortsteile (1. März bis 8. Juni 1974)

Abb. 2: „Holthausen ja, Lingen nein“. Demonstration in Brögbern für die „Nordgemeinde“ Ende Oktober 1971. (Lingener Tagespost vom 28. Oktober 1971)

Abb. 3: „Up ewig ungedeelt“. Demonstrationszug gegen die Teilung von Schepsdorf-Lohne auf der Bundesstraße 213 am am 18. Mai 1973. (Lingener Tagespost vom 19. Mai 1973).

Abb. 4: Plakat zum 25. Jahrestag der Gemeindereform

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