Archivalie des Monats Juli 2022

von Dr. Mirko Crabus 

Im Jahre 1912 konnte der Katholische Gesellenverein Lingen auf eine 50-jährige Geschichte zurückblicken. 1862 von Dechant Diepenbrock, seinen Hilfsgeistlichen sowie Lingener Lehrern und Handwerkern nach dem Vorbild Adolph Kolpings gegründet, sollte der Verein Handwerksgesellen unterstützen und religiös betreuen. Belehrende Vorträge, Unterhaltungsangebote und Gesang  prägten das Vereinsleben. Seit 1891 unterhielt man ein eigenes Gesellenhaus, in dem auch auswärtige Gesellen auf Wanderschaft preiswert Unterkunft und Verpflegung finden konnten. Die Zahl der Mitglieder stieg von anfangs 44 auf nunmehr rund 100 und dreimal sovielen Ehrenmitgliedern. Schon das 10-jährige Bestehen hatte man ausgiebig gefeiert, ebenso das 20-jährige und das 25-jährige. Das nun anstehende Fest aber sollte alle bisherigen in den Schatten stellen.

 

Der eigentliche Festtag war am Sonntag, dem 28. Juli. Doch schon am Samstag kündigte abendliches Glockengeläut das bevorstehende Fest an, und mit den Abendzügen erreichten die ersten Deputationen auswärtiger Brüdervereine den Bahnhof. Am Sonntagmorgen wurden weitere Deputationen vom Bahnhof abgeholt und mit Musik zum Gesellenhaus in der Henriette-Flatow-Straße geleitet. Dort begann um 10 Uhr ein Festgottesdienst. Diözesanpräses Scheiermann hielt ein feierliches Levitenamt und der frühere Vereinsvorsitzende Ganseforth die Festpredigt. Darauf folgte die offizielle Begrüßung. Bürgermeister Meyer ließ sich allerdings entschuldigen, er wurde von Senator Stöver vertreten, und auch Bürgervorsteher Terstiege war anwesend.

 

Um halb drei kam man erneut zusammen. Die „Frauen Lingens“ – also wohl einige Mütter der Gesellen – hatten eine Fahne mit goldenem Kranz gestiftet, die nun vom Diözesanpräses feierlich eingeweiht wurde. Und dann folgte ein großer Festumzug, der Höhepunkt der Feierlichkeiten. Der Zug startete in der Burgstraße, zog in einem großen Bogen über den Marktplatz und bog dann in die Lookenstraße ein. Danach ging es am Bahnhof vorbei auf die Wilhelmstraße und über die Gymnasialstraße wieder in die Innenstadt zurück. Überall waren die Straßen mit Flaggen und Blumen geschmückt.

 

An der Spitze des Zuges lief ein Trommler- und Pfeifenkorps, dann folgten die Mitglieder des Lehrlingsvereins und des Arbeitervereins. Nach weiteren Musikern kamen dann nicht weniger als 31 Deputationen auswärtiger Gesellenvereine, unter anderem aus Hamburg, Kiel, Osnabrück und Münster. Besondere Aufmerksamkeit erregten die nun vorbeiziehenden Wagen der Handwerkerinnungen. Die hatten je nach Zunft ihre Festwagen thematisch gestaltet. So hatten die Tischler einen fahrbaren Pavillon gezimmert und die Bauhandwerker hatten – zum Leidwesen der Pferde – gleich ein ganzes Gartenlaubenhaus auf die Räder gestellt. Auf dem Wagen der Bäcker stand eine überdimensionale Torte. Die Maler, die eigentlich zur Innung der Bauhandwerker gehörten, hatten ebenfalls einen eigenen Wagen inklusive kleinem Landschaftsgemälde. Auch die Schuhmacher, Stuckateure, Schneider, Metzger, Schmiede, Gärtner, Stellmacher und Dekorateure beteiligten sich, und so konnte man schließlich zwölf Festwagen zählen. Nach einer musikalischen Unterbrechung erschien dann der Festwagen der fünf Jubilare, die seit nunmehr 50 Jahren – inzwischen als Ehrenmitglieder – dem Verein angehörten: Goldschmied Corves, Tischlermeister Hellmann, Dreher Humbert, Stellmacher Lambers und Zimmermann Voges. Den Abschluss des Zuges bildeten die Mitglieder und Ehrenmitglieder des Gesellenvereins.

 

Anschließend versammelte man sich zu einem Gartenkonzert auf der Wilhelmshöhe, wo auch die Festwagen noch einmal besichtigt werden konnten. Hier fand am Abend auch die Festversammlung statt, auf der der Kölner Generalpräses Schweitzer noch einmal eine Lobrede auf die Gesellenvereine hielt („Der Handwerker muß wandern.“), aber auch mahnende Worte fand („Die Zeiten sind schlimmer geworden. Auf den Werkstätten steht der junge Handwerker der organisierten Verführung der Sozialdemokratie gegenüber.“) und mit dem Kolpinggruß schloss („Gott segne das ehrbare Handwerk!“). Im Namen des Eisenbahnausbesserungswerkes ergriff Regierungsbaumeister Nolte das Wort.  Angesichts drohender Massenentlassungen bei der Eisenbahn war Anfang Februar auch die Belegschaft des Lingener Werkes in einen kurzzeitigen Streik getreten. Und so dankte Nolte für die tatkräftige Mitwirkung des Gesellenvereins bei der „Bekämpfung des Umsturzes“. Die Feierlichkeiten endeten um 1 Uhr morgens mit einem Lobgesang auf dem Marktplatz.

 

Der nächste Tag begann vergleichsweise früh um halb neun mit einem Requiem für die verstorbenen Ehrenmitglieder. Danach zog man sich zur Diözesankonferenz in das Hotel Heeger zurück. Mittags folgte ein Festessen im Gesellenhaus, und am Nachmittag brach man vom Alten Hafen aus mit zwei Pünten zum Ausflug nach Haneken auf. Im Gesellenhaus ließ man den Tag schließlich ausklingen. Die Gartenlaube der Bauhandwerker hatte indes so sehr begeistert, dass sich einige Handwerker offenbar lieber vor ihr als vor ihrem eigenen Wagen fotografieren ließen. Sie wurde später dauerhaft vor dem Gesellenhaus aufgestellt.

 

 

Quellen und Literatur

  • StadtA LIN, Diasammlung, Nr. 127.
  • StadtA LIN, Fotosammlung, Nr. 5439.
  • StadtA LIN, Fotoserien, Nr. 417, Nr. 563, Nr. 1122.
  • StadtA LIN, Lingener Volksbote vom 20.7. bis 3.8.1912.
  • StadtA LIN, Lingensches Wochenblatt vom 31.7.1912.
  • StadtA LIN, Zeitschriften, Nr. 62, Blatt 387.
  • Hartz, Antonius/Raming, August/ Brinker, Hermann (Hg.): Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Kolpingfamilie Lingen-Zentral 1862-1987, Lingen 1987.
  • Kolpingsfamilie Lingen (Hg.): Festschrift zur Hundertjahrfeier der Kolpingsfamilie Lingen (Ems) und des Kolpingchores, Lingen 1962.
  • Kreishandwerkerschaft Lingen (Hg.): Chronik des Lingener Handwerks. Das Handwerk in Lingen und Umgebung einst und jetzt, Lingen (Ems) 2000.

 

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