Von Dr. Mirko Crabus

Die Bauarbeiten am Kernkraftwerk Lingen begannen am 1. Oktober 1964 und dauerten keine vier Jahre. Am 31. Januar 1968, vor rund fünfzig Jahren also, wurde der Reaktor zum ersten Mal kritisch, und am 1. Juli 1968 nahm das Werk den kommerziellen Betrieb auf. Anders als die anderen deutschen Kernkraftwerke arbeitete das Werk in Darme zumeist nicht mit voller Auslastung. In der Regel fuhr man nur tagsüber mit voller, nachts hingegen mit halber Last.

Die ersten Probleme traten bereits im März 1968 auf, als sich die zur Regulierung und Abschaltung des Reaktors notwendigen Steuerstäbe verklemmten und der Reaktor infolgedessen erstmals außerplanmäßig abgeschaltet werden musste. Im Februar 1969 traten feuchtigkeitsbedingte Schäden an den Brennelementen auf. Am 1. August 1969 dann entstanden mehrere undichte Stellen am Primärkreislauf. Dies hatte zur Folge, dass – wie die Emsland-Nachrichten es ausdrückten – „radioaktives Abwasser in einer gegenüber dem normalen Betrieb erhöhten Menge“ in die Ems gelangte. Bei Messungen wurde ein Wert von 629 Megabecquerel festgestellt, womit das Werk die Grenzwerte für drei Jahre überschritten hatte. Im Jahr 1970 erfolgten insgesamt fünfzehn irreguläre Abschaltungen, unter anderem wegen verklemmter Steuerstäbe, Beschädigungen an den Brennelementen und Schäden an den Läufern der Turbine.

Ende August 1970 erteilte das niedersächsische Sozialministerium dem Werk die Erlaubnis zum Einsatz von Plutonium. Üblicherweise wurde das Werk wie andere Kernkraftwerke auch mit Uran – insgesamt 32,2 Tonnen – betrieben. Zu Versuchszwecken wurde nun eines der 284 Uranbrennelemente durch ein Plutoniumelement ersetzt. Die Gefährdungsgrenze für radioaktive Abgaben in die Umgebung wurde dabei, wie das Sozialministerium im Oktober 1978 auf Nachfrage der Lingener Tagespost betonte, nicht überschritten.

Kernkraftwerk Lingen macht bundesweit Schlagzeilen 

Im August 1971 kam es zu einem Brand in dem ölbetriebenen Überhitzer. Einen Monat später sorgte eine defekte Wechselstromleitung im Kontrollraum für falsche Messanzeigen, was eine sofortige Abschaltung erforderlich machte. Im Juni 1972 dann wurden bei einer Überprüfung Lecks an den Schweißnähten der Dampfumformer festgestellt, die seit über einem Jahr zu einem allmählichen Anstieg der Radioaktivität im Sekundärkreislauf geführt hatten. In der Folgezeit war dies neben Schäden an den Brennelementen eines der Hauptprobleme. 1973 traten erneut schwere Schäden an den Brennelementen auf, sodass das Werk für fast ein Jahr stillgelegt werden musste. Nach gerade einer Woche Betrieb traten erneut Schwierigkeiten auf. Infolge eines Lecks an einer Hauptumwälzpumpe und eines defekten Abluftfilters wurde Radioaktivität in die Umwelt abgegeben, sodass die Stromerzeugung von August bis Oktober 1974 wieder unterbrochen werden musste. Nachdem erneut Undichtigkeiten an den Dampfumformern aufgetreten waren, ging das Werk am 5. Januar 1977 vom Netz. Mit einer Wiederinbetriebnahme rechnete man nicht vor 1982.

1978 machte das Kernkraftwerk Lingen bundesweit Schlagzeilen, als die Ergebnisse einer Studie des Bremer Instituts für biologische Sicherheit veröffentlicht wurden, nach der vor allem bei Kindern die Zahl der Leukämieerkrankungen in der Umgebung des Werkes signifikant erhöht schien. Rund 230 Fälle hatte man dokumentiert. Dem wurde seitens des niedersächsischen Sozialministeriums umgehend wiedersprochen. Tatsächlich verfügten die wenigen Mitarbeiter des privaten Instituts um die Atomkraftgegner Walther Soyka und Roland Bohlinger über keinerlei fachliche Vorkenntnisse und stützten ihre Ergebnisse lediglich auf Umfragen in der Bevölkerung. Von einer wissenschaftlichen Belastbarkeit war ihre Studie weit entfernt. Allerdings tat man sich schwer, die Studie sachlich fundiert zu widerlegen. Leukämiefälle waren in der Bundesrepublik nicht meldepflichtig. Für Soyka war das der eigentliche Skandal. Die ZEIT brachte das Problem auf den Punkt: „Die Zahlen des Bremer Instituts für biologische Sicherheit erscheinen ebensowenig fest wie die des Sozialministeriums.“ Das Sozialministerium gab deshalb eine eigene Studie in Auftrag, in der über 200 Ärzte befragt wurden. Erst im April 1980 konnte als Ergebnis dieser Gegenstudie verkündet werden, dass es in Lingen keineswegs zu einem gehäuften Auftreten von Leukämie gekommen sei. Doch auch diese Studie wurde methodisch angezweifelt. Atomkraftgegner kritisierten, dass sie alle Fälle vor 1968 und außerhalb des Emslandes ignoriert und damit keine Vergleichsbasis ermittelt habe. Nicht zuletzt durch eine Podiumsdiskussion im Februar 1979, an der neben Roland Bohlinger unter anderem auch der Lingener Oberbürgermeister teilnahm, hatte sich im Laufe der Diskussionen das kritische Bewusstsein hinsichtlich der Atomenergie in der Lingener Bevölkerung deutlich geschärft.

Am 5. Januar 1979, genau zwei Jahre nach der Abschaltung, beschloss die VEW die endgültige Stillegung des Kernkraftwerks Lingen. Die für die Wiederinbetriebnahme erforderlichen Nachrüstungen – man rechnete mit 200 Mio. DM – erwiesen sich als wirtschaftlich nicht mehr interessant. Die Stillegung wurde 1985 von Niedersachsen genehmigt. Wegen der zahlreichen Ausfälle kam man auf eine durchschnittliche Auslastung von nur 44 Prozent. Wirtschaftlich sei man, so VEW-Kraftwerksdirektor Adams, „mit einem blauen Auge davongekommen“. Insgesamt aber bewertete er das Projekt trotz der geringen Laufzeit von nur neun Jahren als Erfolg. Man habe zeigen können, so Adams, daß sich „mit Kernenergie wirtschaftlich und sicher Strom erzeugen läßt“. 1987 machte das Kernkraftwerk Lingen erneut überregional Schlagzeilen, als hier nach dem Super-GAU von Tschernobyl verstrahltes Molkepulver dekontaminiert wurde. Seit 1988 befindet sich die Anlage im Sicheren Einschluss.

Quellen und Literatur
– Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung, Nr. 1620, Nr. 2306.
– Stadtarchiv Lingen, Oberstadtdirektor, Nr. 83f., Nr. 86, Nr. 93.
– Bürgerinitiative gegen Atompolitik Osnabrück (Hg.): Fortschritt oder Zerstörung? Das Emsland. Informationen zur Erschließung und Industrialisierung einer Region, Osnabrück 1980.
– Die ZEIT, Ausgabe 45/1978.
– Interessengemeinschaft Chronik Darme (Hg.): Darme. Von einer Bauerschaft zu einem Stadtteil. 1302-2002, Lingen 2002.
– Müller Wolfgang D.: Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deuschland, Band II. Auf der Suche nach dem Erfolg – Die sechziger Jahre, Stuttgart 1996.
– Paul, Reimar: Der gefährliche Traum. Atomkraft nach Tschernobyl. Notwendiges Basiswissen, Daten über Sicherheitsrisiken, Steckbriefe aller deutschen AKWs, Folgen von Tschernobyl und Harrisburg für Mensch und Umwelt, Frankfurt am Main 1986.

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