Archivalie des Monats Dezember 2023
von Dr. Mirko Crabus
Auf dem Lingener Marktplatz, dort wo sich heute der Fabeltierbrunnen befindet, stand einst das sogenannte Stadthaus. Die Maueranker an der westlichen Giebelseite verwiesen auf das Baujahr 1651. Sein Baumeister und seine ersten Bewohner bleiben allerdings im Dunkeln. Erster nachweisbarer Bewohner des Hauses ist um 1750 der Regierungsrat Henricus Pontanus, ein Neffe von Heinrich Pontanus, des Gründers der Hohen Schule in Lingen. Henricus‘ Mutter, die Witwe von Heinrichs Bruder Albert Pontanus, wohnte damals auf der anderen Seite des Marktes in der Alten Posthalterei.
Spätestens seit 1764 befand sich das spätere Stadthaus im Besitz der Familie Frye. 1805 verkaufte die Witwe Rosine Margarethe Frye, eine geborene Tambusch, das Haus samt Hofraum und Stall für 4000 holländische Gulden an den aus Meppen stammenden Conrad Lauten. Conrad und Therese geb. Kurs verkauften 1828 ihrem Nachbarn, dem Apotheker Muhle (Am Markt 4, Ecke Bauerntanzstraße) einen Raum zwischen ihrer Scheune und dem Hause Muhles. Eine Tür zwischen Raum und Scheune musste dafür zugemauert werden. 1855 wohnen im späteren Stadthaus nicht nur die 70jährige Witwe Lauten mit ihren zwei längst erwachsenen Töchtern und einem Sohn, sondern auch der pensionierte Kreiskassengehilfe Carl Müller mit seinen beiden Töchtern.
1873 – vor 150 Jahren also – erklärte sich der Kämmerer F. Lauten bereit, sein Haus an die Stadt zu verkaufen. Am 1. November wurde der Kaufvertrag geschlossen, der Lauten und seiner Schwester Louise eine lebenslängliche Rente zusicherte, und auf der nächsten Ratssitzung wurde Lauten ausdrücklich noch einmal für seinen Bürgersinn gelobt. Denn tatsächlich hatte die Stadt die Räumlichkeiten dringend nötig. Der Stadtverwaltung hatte bisher nur das Alte Rathaus (Am Markt 15) zur Verfügung gestanden. Das nun unter dem Namen „Stadthaus“ firmierende Gebäude bot zunächst so viel Platz, dass lediglich im Erdgeschoss Büroräume eingerichtet wurden. Die Wohnungen im Obergeschoss konnten vermietet werden.
Doch mit steigenden Verwaltungsaufgaben stieg der Platzbedarf. Immerhin waren hier neben dem Bürgermeisterbüro auch der Stadtschreiber, der Gemeindediener, der Stadtkämmerer und die Polizei untergebracht, seit 1874 auch der Standesbeamte. So wurden 1920 die Werkstatt- und Lagerräume der Hintergebäude behelfsmäßig ausgebaut und später auch die Wohnräume im Obergeschoss zu Büros umgewandelt. Perfekt war auch das nicht. 1927 schreibt Bürgermeister Gilles: „Die Dienstzimmer der Verwaltung im Stadthaus, Am Markt 7, sind sehr beengt. Die Abfertigung des Publikums ist mit großen technischen Schwierigkeiten verbunden. Mehr Einzelzimmer sind sehr zu empfehlen, damit die Verhandlungen mit den einzelnen Personen nicht in Gegenwart unliebsamer Zeugen geführt werden müssen. Aber auch ohnedem sind die gegenwärtigen Zustände einem ungestörten Arbeiten nicht zuträglich. Die Erstellung eines neuen Verwaltungsgebäudes ist eine dringende Notwendigkeit, die von den städtischen Kollegien mehrfach anerkannt worden ist.“
Um bald an selber Stelle ein größeres Gebäude errichten zu können, bemühte sich die Stadt um den Ankauf der Nachbarhäuser. Am Markt 4 besaß sie schon, 1934 gelang ihr auch der Kauf des dazwischenliegenden Hauses Am Markt 6. Der Eigentümer Malermeister Ubl wollte sein Haus eigentlich nur renovieren, erklärte sich dann aber doch mit einem Tausch einverstanden und zog in die Häuser Am Markt 9/10. Doch der erhoffte Neubau ließ auf sich warten. Nach 1950 wurden immer mehr Abteilungen ausgelagert. 1965 befand sich etwa das Ordnungsamt in der Wilhelmstr. 49, Stadtbauamt und Steuerabteilung in der Georgstr. 7a und 12, Standesamt und Kultur- und Schulamt in der Elisabethstraße 20, das Rechtsamt und Liegenschaftswesen schließlich am Gasthausdamm. Im Stadthaus waren nun nur noch das Hauptamt, die Personalabteilung, das Rechnungsprüfungsamt und die Stadtkasse.
Längst liefen die Planungen für ein neues Stadthaus an der Elisabethstraße. 1966 wurde es eingeweiht und konnte bezogen werden. Der Zustand des alten Stadthauses war unterdessen im wahrsten Sinne des Wortes unhaltbar geworden. Wie ein Bericht gezeigt hatte, waren bei früheren Umbauarbeiten schrittweise immer mehr Teile der tragenden Wände enfernt worden, zudem war das Haus auf lockerem Sandboden errichtet. Einige Balken waren inzwischen so stark gebogen, dass mit einem Zusammenbruch gerechnet werden musste. Um das Haus zumindest soweit zu stabilisieren, dass es bis zum Auszug genutzt werden konnte, mussten die Balken abgestützt werden. Im September 1966 wurde es schließlich abgebrochen.
Quellen und Literatur
StadtA LIN, Altes Archiv, Nr. 474, Nr. 6142, Nr. 6147, Nr. 6149, Nr. 6231.
StadtA LIN, Fotosammlung, Nr. 426, Nr. 610.
StadtA LIN, Fotoserien, Nr. 138.
StadtA LIN, Genealogische Sammlung, Nr. 25.
StadtA LIN, Karten und Pläne, Nr. 167, Nr. 199.
StadtA LIN, Sammlung Ausstellungen, Nr. 12.
StadtA LIN, Stadt Lingen, Nr. 578, Nr. 757.
Adressbuch Landkreis Lingen, 1965.
Stadt Lingen (Ems) (Hg.): Das Neue Rathaus Lingen (Ems), Lingen (Ems) 1966.
Vehring, Karl-Heinz: Lingen. Zentrum einer Region. Strukturwandel und Modernisierung, Düsseldorf und Lingen 2013.