Archivalie des Monats Dezember 2021

von Dr. Mirko Crabus

Im Laufe des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl der Vereine in Lingen enorm zu. Fast alle Vereine hatten jedoch eines gemeinsam: Sie nahmen nur Männer auf. Es gab allerdings auch einige Frauenvereine, deren Zweck sich aber meist auf karikative Aufgaben beschränkte. So wurde etwa bereits 1815 im Kampf gegen Napoleon die Gründung eines Frauenvereins angeregt, der sich bei der Versorgung verwundeter Soldaten und ihrer Familien hervortun sollte. Die Leitung übernahmen vier Frauen der städtischen Oberschicht, doch verlor der Verein nach der Niederlage Napoleons seinen Bestimmungszweck. Und auf Initiative der Stiftsdame Freifräulein Clara von Dincklage gründeten mehrere Frauen der städtischen Oberschicht etwa Anfang der 1870er Jahre einen Suppenverein, der Kranke mit Mahlzeiten versorgte und auch anderweitig unterstützte.

Angesichts des Krieges mit Österreich rief die preußische Königin Augusta 1866 in Berlin den Vaterländischen Frauenverein ins Leben. Ziel war die Pflege verwundeter und kranker Soldaten, in Friedenszeiten aber auch entsprechende Hilfe bei Seuchen, Überschwemmungen oder Bränden. Bald entstanden zahlreiche Zweigvereine, Vorläufer der Frauenvereine des Roten Kreuzes. Auf Anregung des Vaterländischen Frauenvereins Osnabrück wurde während des Deutsch-Französischen Krieges 1870 auch in Lingen ein „Damenverein“ oder Verein der Lingener Bürgerfrauen gegründet, der Spenden für Soldaten sammelte und das Lazarett im Bonifatiushospital mit Bettwäsche versorgte. Der Verein ging bald wieder ein. 1906 aber wurde der Vaterländischen Frauenverein in Lingen neu gegründet, und zehn Jahre später zählte er immerhin rund 160 Mitglieder.

Im Ersten Weltkrieg leistete der Verein in Lingen unter der Leitung von Lucie Schnitker unschätzbare Dienste. Lucie Schnitker wurde am 31. August 1865 als Maria Lucia Wilhelmine Veltmann in Storkow geboren. 1893 heiratete sie in Paderborn den elf Jahre älteren Professor Heinrich Schnitker. Der war gebürtiger Lingener, und so ließ man sich in Lingen – am Schulplatz 5, dem heutigen Professorenhaus – nieder.

Eng waren vor allem die Beziehungen des Vereins zum Bonifatiushospital, das damals noch in der Gymnasialstraße seinen Sitz hatte. Die Krankenpflege dort wurde von katholischen Schwestern des münsterischen Mauritzklosters geleistet. Anfangs gestaltete sich die Zusammenarbeit jedoch durchaus schwierig. Als der Frauenverein 1911 anfragte, im Krankenhaus Helferinnen für den Kriegsfall auszubilden, wurde das schlicht abgelehnt. Diese reservierte Position war angesichts des nahenden Krieges jedoch nicht lange haltbar. Ein Reservelazarett wurde eingerichtet, das bei Kriegsbeginn nicht nur das katholische Gesellenhaus und die Wilhelmshöhe, sondern als dritte Abteilung auch das Bonifatiushospital umfasste. Bald wurden auch das Hotel Nave und das Hotel Heskamp zu Lazarettabteilungen umfunktioniert. Träger des Lazaretts war nicht das Militär, sondern der Vaterländische Frauenverein Lingen und der Rote-Kreuz-Verein. Lingen besaß damit eines der größten Vereinslazarette der Provinz.

Der Vaterländische Frauenverein hielt außerdem Sammlungen für die Soldaten ab, begrüßte die am Bahnhof eintreffenden Verwundeten mit Kaffee, Kuchen und Zigaretten und organisierte Veranstaltungen und Konzerte für die Lazarettinsassen. Insbesondere zur Weihnachszeit entwickelte der Verein ein große Aktivität. Außerdem rief man im Februar 1918 zusammen mit dem Landrat und dem Kloster Thuine in Lingen ein Tagesheims für Säuglinge und Kleinkinder ins Leben. Wer sein Kind dorthin geben wollte, sollte sich bei „Frau Professor Schnitker, Am Schulplatz 5“ melden.

Im Laufe des Krieges gerieten der Vaterländische Frauenverein und das Rote Kreuz als Träger des Lazaretts zunehmend in finanzielle Bedrängnis. Im Juli 1918 ließ der Regierungspräsident deshalb eine kreisweite Sammlung für das Lazarett durchführen. Im Oktober 1918 schloss sich der Verein mit drei weiteren ähnlich tätigen Vereinen – dem Eisenbahn-Frauenverein, dem Elisabethverein und dem evangelische Frauenverein – zu einem Ortsausschuss mit gemeinsamer Kasse zusammen, um die Aufgaben besser koordinieren (und wohl auch finanzieren) zu können.

Über das weitere Schicksal des Vaterländischen Frauenvereins Lingen ist wenig bekannt. Im Vorfeld der Nationalversammlungswahl 1919 trat er unter dem Dach der vereinigten Frauenvereine Lingens noch mehrmals in Erscheinung. 1931 spendete er 500 Reichsmark für die infolge der Weltwirtschaftskrise gegründete „Notgemeinschaft Lingen“. Am 10. März 1932 starb – zwei Tage nach ihrem Mann – die einstige Vorsitzende Lucie Schnitker. 1937 gingen die Vaterländischen Frauenvereine im Deutschen Roten Kreuz auf.

 

Quellen und Literatur

⦁ StadtA LIN, Allg. Slg., Nr. 8.
⦁ StadtA LIN, Altes Archiv, Nr. 992a.
⦁ StadtA LIN, Bonifatiushospital (Dep.), Nr. 7.
⦁ StadtA LIN, Fotosammlung.
⦁ StadtA LIN, Lingener Volksbote.
⦁ StadtA LIN, Lingensches Wochenblatt.
⦁ StadtA LIN, Melderegister.
⦁ StadtA LIN, PSR, Lin St 1932/37 und 1932/39.
⦁ Bunge, Rosa/ Wilming, Klara: Die Männer gaben weitgehend den Ton an. Lingener Frauenvereine im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Arbeitsgemeinschaft Frauen in der Geschichte des Emslandes (Hg.): Uns gab es auch, Bd. 1, Lingen (Ems) 1991, S. 139-146.
⦁ Crabus, Mirko: An Front und Heimatfront. Lingen im Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 67 (2021), S. 189-238.
⦁ Crabus, Mirko: Kriegsalltag und Mangelwirtschaft. Lingen im Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 68 (2022), S. 173-224.
⦁ Franke, Werner: St. Bonifatius Hospital. Im Dienst am Nächsten, Bramsche 2005.
⦁ Schütte, Christoph: Vereins- und Kassengründungen als Ausdruck der gesellschaftlichen Entwicklung, in: Ehbrecht, Wilfried (Hg.): Lingen 975-1975. Zur Genese eines Stadtprofils, Lingen (Ems) 1975, S. 199-213.

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