Archivalie des Monats Oktober 2023
von Dr. Mirko Crabus
Sinn und Zweck einer öffentlichen Toilette war und ist es, die Fußgänger – namentlich die Männer – davon abzuhalten, ihre Notdurft öffentlich zu verrichten. In Mittelalter und Frühneuzeit war man damit noch recht entspannt umgegangen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts setzte sich aber ein neues Hygiene- und Intimitätsbewusstsein durch. Was einst toleriert wurde, galt nun als unanständig und wurde geächtet. Am 15. Juni 1878 schrieb der Lingener Magistrat einen Brief an den Kirchenvorstand der katholischen Bonifatiusgemeinde: „Die Kirchgänger und namentlich die auswärtigen Kirchgänger empfinden es sehr unangenehm, daß jede Vorrichtung fehlt, um dem Drange mindestens der kleinen Bedürfnisse abzuhelfen. In Folge dessen werden regelmäßig nach dem Hauptgottesdienste an offener Straße die benachbarten Häuser benäßt. Dieses Verfahren kann im Interesse des Anstandes und der guten Sitte ferner nicht gestattet werden.“
Eine Lösung für das Problem konnte zunächst allerdings nicht gefunden werden. Erst 16 Jahre später – im Oktober 1894 – schuf die Stadt Fakten: Sie bestellte bei der Remscheider Firma Tillmann eine „Bedürfniß-Anstalt“, und zwar „mit Pissoirrinne aus verzinktem Eisenblech“, 674 Kilogramm schwer und 425 Mark teuer. Aufstellen wollte die Stadt die Anlage nahe der Bonifatiuskirche, nämlich auf einer kleinen Teilparzelle von knapp 20 Quadratmetern zwischen dem Stadtgraben und dem Hinterhofzugang des Amtsgerichts. Die Parzelle gehörte zwar zum Gelände des Amtsgerichts und befand sich entsprechend im Eigentum des Justizfiskus, doch der Stadt gelang es, sie für 6 Mark zu erwerben.
Ganz in der Nähe kaufte die Stadt 1901 den Rogge’schen Garten und errichtete dort einen Pferdemarkt. Damit stand das Toilettenhäuschen auch blasenschwachen Marktbesuchern zur Verfügung. Eine sonderlich hohe Qualität hatte das Toilettenhäuschen allerdings nicht. Es war aus einfachem Wellblech gefertigt. Der Eingang erfolgte von der Seite, blieb also in der Frontansicht unsichtbar. Der Abfluss führte direkt in den Stadtgraben. Der Volksmund nannte das Gebäude liebevoll „Pinkulatorium“. Die Toilette war ausschließlich für Männer vorgesehen.
Der Zustand der Anstalt wurde zunehmend problematisch. Bereits 1910 musste sie für immerhin 219 Mark renoviert werden. Im April 1921 dann wandte sich der Regierungsbaumeister mit einem Schreiben an den Magistrat. Da das Häuschen „nicht zur Zierde der Stadt“ beitrage, sondern im Gegenteil „für jeden Fremden abstoßend häßlich wirkt“, bat er um seine Verlegung auf den Pferdemarkt. Der Magistrat lehnte den Vorschlag zwar ab, doch immerhin achtete er nun darauf, dass die Bedürfnisanstalt regelmäßig gespült wurde, da durch sie „hauptsächlich im Sommer ein widerlicher Geruch verbreitet“ werde.
Der Zweite Weltkrieg war vorbei, und das alte Pissoir an der Burgstraße stand immer noch da. Im April 1952 beschwerte sich – nicht zum ersten Mal – ein Nachbar: die Landeszentralbank. Sie lag direkt auf der anderen Seite des Stadtgrabens in dem Haus, in dem sich heute das Emslandmuseum befindet. „Das Gebäude ist stark beschädigt und liegt so dicht an unserem Grundstück, dass es nicht nur, gelinde bezeichnet, unschön wirkt, sondern dass auch aus sanitären Gründen auf seine Verlegung bestanden werden muss.“
Nach einer Ortsbesichtigung erklärte sich der Grundstücksausschuss damit grundsätzlich einverstanden. Doch die Stadt war klamm. Also wurden verschiedene Szenarien diskutiert. Sollte man ein massives Gebäude auch für Frauen errichten oder ein Fertighäuschen aus Wellblech oder reichte es aus, die alte Toilette einfach für 150 DM zu verlegen? Schließlich entschied man sich für eine „hygienisch einwandfreie Toilettenanlage mit Spülklosetts“. Pläne dafür wurden dem Ausschuss im Oktober 1953 vorgelegt. Die Kosten wurden mit 9000 DM veranschlagt, daraus wurden aber schließlich 12.000 DM. Und man benötigte eine „Wärterin“ oder „Toilettenfrau“ für die „Reinmachedienste“
Uneinigkeit herrschte noch immer über die genaue Lage. Man entschied sich schließlich für einen Standort etwa 8 Meter hinter dem Grundstück der Landeszentralbank. Inzwischen hatte auch der Lingener Volksbote wiederholt auf die „unhaltbaren Zustände der öffentlichen Bedürfnisanstalten“ hingewiesen. Im Frühling 1954 vermeldete die Stadt dann: „Mit der Errichtung der ersten neuzeitlichen und modernen öffentlichen Bedürfnisanstalt soll, sofern es die Witterungsverhältnisse erlauben, in etwa vier Wochen auf dem alten Pferdemarkt an der Burgstraße begonnen werden. Die neue Anlage wird Toiletten mit Wasserspülung und Waschgelegenheit erhalten.“ „Mit Wasserspülung in den Sommer“, titelte der Lingener Volksbote, und nach acht Wochen Bauzeit konnte im Juni 1954 endlich die Fertigstellung verkündet werden. Die alte Bedürfnisanstalt am Amtsgericht war damit Geschichte.
Am 19. Oktober um 19:00 Uhr berichtet das Stadtarchiv in einem „Herbstvortrag“ über die Entwicklung privater und öffentlicher Toiletten in Lingen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Die Veranstaltung findet im Professorenhaus statt. Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
Quellen und Literatur
Kirchenarchiv Bonifatius Lingen, C-001-01.
StadtA LIN, Albensammlung, Nr. 34.
StadtA LIN, Altes Archiv, Nr. 818, Nr. 3463.
StadtA LIN, Fotoserien, Nr. 119, Nr. 405.
Carstensen, Jan/ Stiewe, Heinrich (Hg.): Orte der Erleichterung. Zur Geschichte von Abort und Wasserklosett (Schriften des LWL-Freilichtmuseums Detmold 38), Petersberg 2016.
Co op AG, Niederlassung Nordwest, Lingen (Hg.): Geschichte(n) um den „Alten Pferdemarkt“. Handel und Wandel in Lingen an der Ems, Lingen (1985), S. 30.
Furrer, Daniel: Wasserthron und Donnerbalken. Eine kleine Kulturgeschichte des stillen Örtchens, Darmstadt 2004.
Abb. 1: „Andenken an Lingen“: Das öffentliche Pissoir am Amtsgericht. Die Schäden in Bordsteinnähe sind unübersehbar.
Abb. 2: Toilettenhäuschen und Haus Danckelmann am Stadtgraben.
Abb. 3: Das neuerrichtete Toilettengebäude auf dem Alten Pferdemarkt. Foto von 1958.