Archivalie des Monats April 2022

von Dr. Mirko Crabus

Am 7. März 1992, einem Samstag, besetzten rund 30 Jugendliche das leerstehende ehemalige Verwaltungsgebäude des Eisenbahnausbesserungswerkes an der Kaiserstraße. Sie forderten ein unabhängiges Jugendzentrum sowie Wohnraum für die Obdachlosen unter ihnen. Zugleich wollten sie mit der Besetzung dagegen protestieren, dass es in Lingen kaum noch bezahlbaren Wohnraum gab.

Die Forderung nach einem freien Jugendzentrum war nicht neu. Schon 1971 hatte sich eine Jugendinitiative mit diesem Ziel gegründet. Das Ergebnis war nach langen und teils wilden Diskussionen 1975 die Gründung eines Jugendzentrums in der Alten Schlachterei. Doch das wurde damals von der Initiative abgelehnt, da es von einem städtischen Angestellten geleitet wurde, also gerade nicht autonom war. Auch die Hausbesetzer zwanzig Jahre später lehnten den Alten Schlachthof ab, auch ihnen fehlte es dort an Selbstbestimmung. Nun richteten sie sich also in dem leeren Verwaltungsgebäude ein und setzten es so gut wie möglich wieder in Stand. Es gab zwar weder Strom noch Wasser, doch einige Bewohner arbeiteten in Handwerksbetrieben, über zwanzig weitere Jugendliche kamen tagsüber zur Unterstützung, und so wurde geputzt, gehämmert und gesägt. Eine Firma hatte Holz für Betten und Regale gespendet.

Am 14. März veranstalteten die Hausbesetzer einen Tag der offenen Tür. Besucher konnten an einer Hausführung teilnehmen. Es gab eine provisorische Küche, einen Presseraum mit Informationen über geplante und stattgefundene Abrisse von Wohnhäusern, ein Spiel- und Malzimmer für Kinder und ein Musikzimmer mit Ofen. Auch ein Spendenkasten mit dem Spruch „Denkt daran, wir wollen nicht telefonieren, sondern ein Haus renovieren“ wurde aufgestellt. Die Reaktionen aus der Bevölkerung waren vielfach positiv. Besucher brachten Kuchen mit, immer wieder hupten vorbeifahrende Autos. Ablehnung kam jedoch von Anwohnern der Kaiserstraße. In einem Leserbrief kritisierten sie die Hausbesetzung und stellten fest: „Wir Anwohner werden uns mit allen legalen Mitteln dagegen wehren, daß die Kaiserstraße weiter zum ‚Hamburger-Hafen-Milieu‘ absackt.“ 

Das 1915 errichtete Haus befand sich seit 1986 in städtischem Eigentum, und die Stadt hatte vor einem Jahr den Abriss beschlossen, um die Kaiserstraße zu erweitern. Trotz anderslautender Behauptungen war dies in denkmalpflegerischer Hinsicht auch unproblematisch. Angesichts der herrschenden Wohnungsnot erntete die Entscheidung aber auch Unverständnis. Die Stadtverwaltung signalisierte Gesprächsbereitschaft mit den Hausbesetzern, lehnte eine öffentliche Aussprache jedoch ab: Man wolle nicht auf offener Straße verhandeln. Das jedoch wollten widerum die Hausbesetzer nicht akzeptieren. „Als ob hier etwas verheimlicht werden soll“, kommentierte die Mutter eines Bewohners, die am Tag der offenen Tür geholfen hatte. Auch die SPD kritisierte die Verwaltung: Natürlich könne man öffentlich reden, Ratsausschüsse tagen schließlich grundsätzlich öffentlich. Auch der geplante Abriss des Verwaltungsgebäudes sei ein Fehler, und Wohnraum sei für junge Leute tatsächlich schwer zu bekommen.

Durchsetzen konnte sich die SPD mit ihrer Linie jedoch nicht. Die Stadt forderte die Jugendlichen schließlich zur Räumung des Gebäudes auf, immerhin war die Besetzung ein eindeutiger Rechtsbruch. Dass einige der Besetzer obdachlos seien, konnte man nach interner Prüfung nicht bestätigen. Und das Jugendzentrum Alter Schlachthof betonte, dass bei ihnen niemand gegängelt werde (obwohl es natürlich eine Hausordnung gäbe). Die Bundesbahn hatte inzwischen Strafanzeige gegen Unbekannt gestellt. Das Fenster eines nahegelegenen Dienstgebäudes sei eingeschlagen worden, und die Polizei könne nicht ausschließen, dass ein Hausbesetzer einen Stein geworfen hätte. Die Hausbesetzer räumten das Gebäude jedoch nicht. Am 17. März beschloss der Verwaltungsausschuss mehrheitlich die zwangsweise Räumung.

Am nächsten Morgen verständigte die Verwaltung die Polizei. Ein städtischer Vollzugsbeamter übermittelte den Besetzern eine Verfügung zur Räumung des Hauses. Da sie nicht darauf reagierten, begann kurz nach 13 Uhr der Polizeieinsatz. Rund 50 Beamte aus dem Emsland und der Grafschaft Bentheim waren vor Ort. Die Kaiserstraße wurde gesperrt und das Eisenbahngelände abgeriegelt. Dann wurden die Besetzer nochmals per Lautsprecher zum Gehen aufgefordert, sonst drohe eine Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch. Als auch darauf keine Reaktion folgte, begann der Zugriff. Polizisten brachen die vernagelte Tür auf und sicherten die einzelnen Räume. Die meisten Besetzer befanden sich längst nicht mehr im Haus. Lediglich zwölf von ihnen wurden von der Polizei unter passivem Widerstand herausgetragen. Unter ihnen befand sich auch der Ratsherr der Kiebitz-Fraktion. Sie wurden zur Feststellung der Personalien abgeführt. Nicht einmal eine Stunde hatte der Einsatz gedauert. Das Verwaltungsgebäude wurde nun umgehend abgerissen. Ein Bagger riss die Rückfront ein, um das Haus unbewohnbar zu machen und eine Wiederbesetzung zu verhindern.

Gegen 15 Uhr betraten rund 30 zum Teil vermummte Hausbesetzer laut pfeifend das Neue Rathaus, begleitet von mehreren Polizisten mit Schäferhunden. Sie verlangten ein Gespräch und wurden tatsächlich empfangen. Man habe ja nicht einmal ihr Nutzungskonzept abgewartet, beschwerten sie sich. Wie sollen wir eine bezahlbare Wohnung finden, wenn die Stadt günstigen Wohnraum abreisst und teuren Wohnraum schafft? Wo wir denn heute nacht schlafen sollen? Wer wirklich obdachlos sei, lautete die Antwort, könne sich bei der Stadt obdachlos melden und ein Dach über dem Kopf erhalten. Das Gespräch verlief ergebnislos. Allerdings wurden die Jugendlichen auch nicht strafrechtlich belangt.

Die Lingener CDU zeigte sich mit dem Verlauf des Tages zufrieden. Man lasse sich nicht durch ungesetzliches Handeln zu politischen Entscheidungen nötigen. Aus Sicht der SPD hingegen hatte die Stadt eine friedliche Lösung verhindert, indem sie sich dem Gespräch mit den Jugendlichen verweigerte. Die CDU solle einsehen, dass es Jugendliche auch jenseits der Jungen Union gebe. Auch die in der Folge erschienenen Leserbriefe ließen durchaus Sympathie für die Hausbesetzer erkennen. „Was ist eigentlich so gefährlich an ein paar jungen Leuten, die Eigeninitiative als einen Bestandteil von Demokratie verwirklichen? Warum gönnt man ihnen nicht eine Zeitlang dieses Experiment von Selbstverwirklichung und Selbstverwaltung?“ Natürlich sei die Hausbesetzung gesetzeswidrig gewesen, so bilanzierte die Lingener Tagespost in einem Kommentar, doch dürfe man diese Jugendlichen auch nicht ausgrenzen.

Quellen und Literatur

  • StadtA LIN, Fotoserien, Nr. 521, Nr. 653, Nr. 1002.
  • StadtA LIN, Lingener Tagespost vom März 1992.
  • StadtA LIN, Lingener Tagespost, Nr. 8.
  • Rehring, Bernhard: Das Ausbesserungswerk Lingen. Zur Bahngeschichte des Emslandes, Lübbecke 1986.
  • Vehring, Karl-Heinz: Lingen – Zentrum einer Region. Strukturwandel und Modernisierung, Düsseldorf/Lingen 2013.

 

 

 

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