Archivalie des Monats Juni 2018
Von Dr. Mirko Crabus
Noch im Mittelalter waren Waisenhäuser ein seltenes Phänomen. Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg kam es immer häufiger zur Gründung von Waisenhäusern, so 1677 in Braunschweig oder 1679 in Frankfurt. Auch unter den Lingener Reformierten gab es ab 1703 Überlegungen zur Errichtung eines Waisenhauses. Unterstützt werden sollten allerdings nur reformierte Familien. Eine Waisenkasse ist seit 1710 belegbar.
Die ab 1718 überlieferten Rechnungsbücher, die bis zum anvisierten Bau des Waisenhauses im Professorenhaus aufbewahrt werden sollten, gewähren einen Blick in die Organisation der Kasse. Demnach oblag die Aufsicht dem Regierungspräsidenten („Commissaire en Chef“) sowie zwei bestellten Kuratoren. 1735 etwa waren das der Medizinprofessor und Bürgermeister Heinrich Wilhelm Lüning und der Gerichtssekretär und spätere Richter Carl Pontanus. Ihnen war der Rendant, der die Kasse verwaltete, Rechenschaft schuldig. 1710 hatte diese Aufgabe Bernhard Hüllesheim, ebenfalls Bürgermeister, übernommen, und zwar zunächst unentgeltlich. Da der Arbeitsaufwand aber von Jahr zu Jahr stieg, wurde 1718 beschlossen, ihn mit 50 Gulden jährlich zu entschädigen.
Die großzügige Ausstattung der Kasse ließ das durchaus zu. Jährliche Einnahmen kamen unter anderem von der niederländischen Provinz Overijssel, von der Grafschaft Bentheim, der Generalitäts-Lotterie von Den Haag, aber auch von der reformierten Kirche in Lingen und dem reformierten Pastor Werndly. Bedeutend waren auch die Einnahmen aus der Kornbranntweinsteuer. Nicht zuletzt hatten auch Freiherr von Danckelmann und Regierungsrat Pontanus zur Grundausstattung der Kasse beigetragen. Insgesamt beliefen sich die Einnahmen von 1718 auf rund 2502 Gulden. Dem standen Ausgaben von gerade einmal 108 Gulden gegenüber.
Die finanziellen Möglichkeiten, nun auch ein Waisenhaus zu errichten, waren also offenbar vorhanden. Doch dazu sollte es nie kommen. Selbst als die Waisenkasse 1753 von den Erben Danckelmann ein Haus in der Stadt ankaufte, blieb alles beim Alten. Das Haus wurde verpachtet. Der Versuch, ein Waisenhaus im Lingener Akzisehaus einzurichten, scheiterte am Widerspruch der Obrigkeit. Und so sprechen noch 1778 die Quellen von dem „in der Stadt Lingen aufzurichtenden Wayßen Hauß“, auch wenn sich für die Institution allmählich der Begriff „Waisenkasse“ durchsetzte.
Statt einer häuslichen Unterbringung von Waisen konzentrierte man sich von Anfang an auf ihre finanzielle Unterstützung. Da ist 1718 etwa ein gewisser Halffbrodt, der für die Verköstigung von Dirck Schoos Kind Unterstützung erhält, oder Reiner Lössting, dem für das Kind seiner Tochter eine Zahlung gewährt wird. Aber auch Gerichtskosten, Kleidung, Schulgeld, Arztbesuche und Arzneikosten wurden übernommen. Neben Lingenern erhielten auch Waisenkinder aus Baccum, Brochterbeck, Freren oder Lengerich Unterstützung. Doch nicht nur Waisen wurden berücksichtigt. Lebenslange Beihilfen erhielten 1777 etwa sechs alte Witwen sowie „der blodsinnige Gerh. Muller und die gebrechliche Nicolina Rodesmont“.
1773 wurde die Aufgabe der Waisenkasse genauer beschrieben. Sie bestand darin, „entweder der Witwe etwas auf die Kinder zu geben oder die vater- und mutterlosen Kinder gegen eine gewisse Pension bei Bürgern oder Bauern in Kost zu thun“. Die Kuratoren hätten außerdem darauf zu achten, dass „die Kinder ordentlich erzogen, zur Schule und Arbeit angehalten werden“. Fortan sollten aber insbesondere auch katholische Kinder, die mit Zustimmung ihrer Eltern den reformierten Glauben annahmen, unterstützt werden. Das war etwa bei dem katholischen Neubauern Bernd Vonneke aus Freren der Fall, dessen „in der reformirten Religion erzogen werdende Sohn“ bis zu seinem 18. Lebensjahr präbendiert werden sollte.
Gemeinsam mit der katholischen Waisenkasse, die 1748 tatsächlich als Armen- und Waisenhaus gestartet war, das Gebäude aber bereits 1795 wieder verloren hatte, wurde die reformierte Waisenkasse 1822 der Provinzialregierung in Osnabrück unterstellt. Die Einkünfte beider Kassen sollten fortan Waisen aller christlicher Konfessionen zukommen. Die so vereinigte Waisenkasse ging 1875 an den Provinziallandtag der Provinz Hannover über. Noch 1917 unterstützte die Waisenkasse zehn Familien, nachdem der Vater und Ehemann gestorben oder im Ersten Weltkrieg gefallen war.
Quellen und LiteraturStadtarchiv Lingen, Altes Archiv, Nr. 2629, Nr. 2643, Nr. 5511.
Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung.
Beesten, Werner von: Beiträge zur Chronik der Stadt Lingen aus den Jahre 1860 bis 1880, Lingen 1880.
Krumwiede, Hans-Walter: Kirchengeschichte Niedersachsen. Vom Deutschen Bund 1815 bis zur Gründung der evangelischen Kirche in Deutschland 1948, Göttingen 1996.
Schriever, Ludwig: Geschichte des Kreises Lingen, Teil 1. Die allgemeine Geschichte, Lingen a. d. Ems 1905.
Abb. 1: Das Professorenhaus. Hier wurden die Rechnungsbücher der Waisenkasse lange Zeit aufbewahrt. Aufnahme um 1930. (Stadtarchiv Lingen/Schelm)
Abb. 2: „Der blodsinnige Gerh. Muller und die gebrechliche Nicolina Rodermond ad Dies vitae ihre Pensiones behalten“. Nicht nur Waisenkinder wurden unterstützt. (Stadtarchiv Lingen, Altes Archiv, Nr. 5511)
Abb. 3: „Rechnung von Einnahme und Ausgabe des in der Stadt Lingen aufzurichtenden Wayßen Haußes pro 1778“. Zur Errichtung des Hauses ist es allerdings niemals gekommen. (Stadtarchiv Lingen, Altes Archiv, Nr. 5511)