Archivalie des Monats September und Oktober 2020

von Dr. Mirko Crabus

Der Alte Friedhof befand sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem erbärmlichen Zustand. Es gab kein Wegenetz, und so mussten Besucher, um ein Grab zu erreichen, ihren Weg über andere Gräber suchen. Auch fehlte dem Friedhof eine Einfriedung, um streunendes Vieh abzuhalten. Und nicht zuletzt wegen der zahlreichen auf Dauer angelegten Erbbegräbnisse war der Friedhof viel zu klein. Viele Familien fanden nur unter großen Schwierigkeiten einen Begräbnisplatz. Nicht selten wurden Gräber zu früh wiederverwendet, sodass bei der Aushebung unverweste Gebeine zum Vorschein kamen. Eine Friedhofskommission gab es nicht. Katholiken, Reformierte und Lutheraner beerdigten hier gleichermaßen ihre Toten, ohne dass es eine gemeinsame Koordination gab. Faktisch verwaltete jede Familie ihren Begräbnisplatz selbst und verkaufte ihn mitunter auch weiter.

 

Am 12. oder 13. Juli 1821 ließ Amtsassessor Anton Mulert einen am Friedhof gelegenen Grabstein wegschaffen. Er wollte ihn beim Bau seines Hauses (Kivelingstraße 8) verwenden. Doch er wurde erwischt. Bei seiner Aussage berief sich Mulert auf Pastor Beckhaus, einen Sohn des früheren Bürgermeisters. Von ihm habe Mulert den Stein gekauft, und der Abtransport des Steins sei mit Pastor Beckhaus‘ Einwilligung geschehen. Der Maurer Anton Barlow stützte diese Aussage: Beckhaus habe den Stein Mulert überlassen und das Kaufgeld als Geschenk für die Armen bestimmt. Der Polizeikommissar meldete den Fall daraufhin dem reformierten Kirchenrat, und der nahm den Fall sehr ernst. Schließlich gehörten „dergleichen Leichensteine zu dem Kirchhof“ und könnten nicht einfach von jedem, wie er Lust hat, „dem Gottesacker entzogen“ werden.

Der Kirchenrat stellte Pastor Beckhaus zur Rede. Dessen Ruf war ohnehin schon beschädigt. Denn Beckhaus soff. Wegen seines „trunkergebenen Wandels“ und seiner infolgedessen „bis zum höchsten Grad geschwächten Körper- und Geistes-Kräfte“ war er seit einigen Monaten suspendiert. Beckhaus erklärte nun, er habe Mulert tatsächlich einen Grabstein verkauft, allerdings nicht den fraglichen, an dem er auch gar keine Eigentumsrechte hätte, sondern einen ihm gehörigen Stein aus seiner Familie. Zwar habe Mulert ihn mit den Worten, dass dieser ohnehin „ein Anstoß“ sei, um den Stein gebeten, doch habe Beckhaus ihm empfohlen, sich in dieser Frage an den Kirchenrat zu wenden. Darauf habe Mulert jedoch nur erwidert: „Nein, das thue ich nicht, denn auf diese Art bekomme ich den Stein nie.“ Der Kirchenrat leitete den Fall daraufhin an das evangelische Konsistorium weiter. Im November wurde Beckhaus mit gerade 31 Jahren entlassen, im Jahr darauf wurde seine Ehe geschieden. Er zog sich nach Tinholt zurück.

Die Zustände auf dem Alten Friedhof blieben besorgniserregend. 1829 forderten die Pfarrer der drei Gemeinden in Lingen die Regierung auf, „dem allgemeinen Bedürfnis nach Einfriedung und Verschönerung des hiesigen Kirchhofs abzuhelfen“. Die Regierung übertrug diese Aufgabe postwendend dem Lingener Magistrat. Der kaufte auch gemeinsam mit den Landgemeinden 1837/38 Land zur Erweiterung des Friedhofs. Doch erst 1848/49 entstand um Bürgermeister Horkel eine Verwaltungskommission, mit der der Friedhof de facto in städtische Trägerschaft überging. Als der Friedhof schließlich seine Umfassungsmauer erhielt, wurden mehrere, darunter wohl auch viele verwahrloste Grabplatten integriert. Die rote Ziegelsteinmauer hinter dem heutigen Kriegsopfermal enthält insgesamt 23 Grabplatten mit Sterbedaten zwischen 1606 und 1847. Die Familiennamen – Beckhaus, Horkel, van Nes, Huilmann, Raidt, Meiling, Kerkhoff, Cappenberg oder zur Eyck – lesen sich wie ein Who is Who der Lingener Stadtgeschichte. Das hieß jedoch nicht, dass fortan sämtliche Gräber vorbildlich gepflegt worden wären. Im September 1920 rief die Friedhofskommission die Eigentümer der in Verfall geratenen Erbbegräbnisplätze zur Meldung auf. Es waren nicht weniger als 43.

In den 1820er Jahren war es um den Alten Friedhof nicht gut bestellt. Einige Lingener machten aus der Not eine Tugend und verwendeten alte Grabsteine einfach weiter. Baumaterial war teuer und die Gelegenheit günstig. 1821 geriet Pastor Beckhaus in Schwierigkeiten, weil er an den Amtsassessor Mulert einen Grabstein vom Friedhof wegverkauft hatte. Noch im selben Jahr wurde er entlassen, jedoch nicht wegen des Grabsteins, sondern wegen seines Alkoholproblems (vgl. Archivalie des Monats August!).

Die Entwendung von Grabsteinen war allerdings kein Einzelfall. Der Kirchenrat beklagte 1821 den „seit einiger Zeit eingenisteten Unfug und Wandel, von dem hiesigen Kirchhof Steine bei Dutzenden von den Grabstätten der Verstorbenen wegzunehmen und dadurch die Ruhestätten der Verstorbenen zu entblößen“. Das Konsistorium möge dem durch Verfügung Einhalt gebieten. Und die entwendeten Steine sollten doch möglichst auf den Friedhof zurückkehren.

Dass zumindest letzteres nicht geklappt hat, zeigt der Fall Hüvett. Durch Heirat gelangte Hermann Hüvett 1794 in den Besitz der Gastwirtschaft „zur Sonne“ in der Burgstraße 15. Dann übernahm sein Sohn Johann Hermann Hüvett die Gastwirtschaft. 1822 ließ er das alte Gebäude abreißen und einen Neubau errichten. Die Nordseite des Hauses kam dabei auf einem Sockel aus Grabplatten zu ruhen. Die Steine wurden nicht als Ganzes verbaut, sondern in acht passgenaue Teile zerschlagen. Lesbar waren etwa noch die Namen Jan Kuiman, Gesina Hubers und Catharina Elisabetha Dreesman sowie einzelne Jahreszahlen von 1666 bis 1734. Auch dieses Haus wurde inzwischen durch einen Neubau ersetzt. Doch es scheint, als habe sich Johann Hermann Hüvett die Grabsteine etwa zur selben Zeit wie Amtsassessor Mulert vom Alten Friedhof geholt.

Dort wo heute das Neue Rathaus steht, befand sich früher die Posthalterei Raberg (Elisabethstraße 6/8). Tatsächlich waren es zwei Gebäude. An das giebelständige Hauptwohnhaus von 1655 schloss sich rechts ein traufständiger Fachwerkbau an, der nach hinten hin um einen Stallanbau erweitert wurde. Die Grundmauern dieses Stalls bestanden zum Teil aus zurechtgeschlagenen Inschriftensteinen. Es waren drei hochformatige Grabsteinfragmente und eine in vier querformatige Teile gebrochene Gedenktafel. Die Gedenktafel, so geht zumindest indirekt aus der Inschrift hervor, hatte Henricus Pontanus am 26. Oktober 1685 für seinen Amtsvorgänger und Kollegen, den Prediger Gisbertus Steenbergen, aufstellen lassen, der am 30. September 1684 verstorben war. Wann der Stall gebaut wurde, ist nicht bekannt, doch ließe sich vermuten, dass auch diese Steine um 1820 vom Friedhof geholt wurden. Bauherr wäre demnach der Posthalter Johann Friedrich Raberg gewesen. Johann Friedrich Raberg saß zugleich als Diakon im Kirchenrat. Entsprechend war er auch 1821 bei der Anhörung von Pastor Beckhaus anwesend. Ob Raberg dabei Zeichen einer ungewöhnlichen Nervosität gezeigt hat, ist im Protokoll leider nicht vermerkt. Rabergs Gebäude jedenfalls wurden im Vorfeld des Rathausneubaus von 1966 abgerissen und die Steintafeln zunächst auf den Bauhof gebracht. 1967 dann wurden sie in die Mauer am Pulverturm integriert.

Am nördlichen Eingangsportal des Justizparks findet sich ein ähnlicher Stein, allerdings mit nur einer, heute kaum noch lesbaren Schriftzeile.

Und noch ein Fall ist belegt. Im Oktober 1820 verfügte die königliche Regierung Osnabrück, dass alle Untertanen binnen vier Monaten ihre Brunnen mit einem festen Geländer oder einer sonstigen Einfassung zu versehen haben. So sollten Unfälle vermieden werden. Möglicherweise war dies der Anlass dafür, dass der Brunnen der Schlachterstraße 22 (des heutigen „Hexenhauses“) umgestaltet wurde. Die Brüstung des Brunnens wurde abgetragen und der Brunnenschaft mit einer Sandsteinplatte abgedeckt. Nur war es nicht irgendein Sandstein, sondern das Fragment einer alten Grabplatte. In den 1820er Jahren wohnte in der Schlachterstraße 22 ein gewisser Michael Verhael. Er war ein einfacher Tagelöhner. Und die Wiederverwendung der Grabplatte war zweifellos eine kostensparende Lösung.

Das Phänomen, Grabplatten des Alten Friedhofs zweckzuentfremden, scheint sich auf die frühen 1820er Jahre beschränkt zu haben. Bis auf dem Friedhof wieder Ordnung einkehrte, dauerte es jedoch noch einige Zeit.

Abbildungen
Abb. 1: Der Südteil des Alten Friedhofs auf einer Fotographie der 1960er Jahre.
Abb. 2: Der Lingener Kirchhof und seine projektierte Erweiterung. Karte von 1830. (Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung. Original im NLA, Standort Osnabrück)
Abb. 3: Mauer mit 23 Grabplatten auf dem Alten Friedhof
Abb. 4: Die Gastwirtschaft Raberg um 1920 mit dem Haupthaus (Elisabethstr. 6) und dem rechts anschließenden Nebengebäude (Elisabethstr. 8).
Abb. 5: Gedenktafel für den Prediger Gisbertus Steenbergen in der Mauer am Pulverturm
Abb. 6 und 7: Die drei Grabsteinfragmente in der Mauer am PulverturmAbb. 8: Inschriftstein am Nordeingang des Justizparks

Quellen und Literatur
– Stadtarchiv Lingen, Allgemeine Sammlung, Nr. 1191.
– Stadtarchiv Lingen, Altes Archiv, Nr. 4081 sowie Nr. 1569 (Jg. 1822, Hausnr. 160).
– Stadtarchiv Lingen, Ev.-ref. Kirchenarchiv (Dep.), Nr. 294 (Protokolle vom 24.3.1821, 12.7.1821, 18.7.1821, 19.9.1822).
– Stadtarchiv Lingen, Fotosammlung.
– Stadtarchiv Lingen, Genealogische Sammlung, Nr. 25, hier Nr. 999 und Nr. 1383.
– Stadtarchiv Lingen, Lingensches Wochenblatt vom 11.9.1920.
– Eiynck, Andreas: Hausmarken. Geheimnisvolle Zeichen an Häusern und Antiquitäten, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 58 (2012), S. 175-214.
– Goldschmidt, Bernhard Anton: Geschichte der Grafschaft Lingen und ihres Kirchenwesens insbesondere. Neudruck der Ausgabe Osnabrück 1850, Osnabrück 1975.
– Raydt, Th.: Der Kirchhof bei Lingen und dessen Verwaltung, Lingen 1886.
– Tenfelde, Walter: Die Grabplatten der Stadt Lingen. Eine familiengeschichtliche Abhandlung (Die Lingener Heimat 3), Lingen-Ems 1950.
– Tenfelde, Walter: Die Prediger der reformierten Gemeinde der Stadt Lingen (Ems), Lingen (Ems) 1968.

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