Archivalie des Monats Januar 2019

von Dr. Mirko Crabus

New Jersey führte das Frauenwahlrecht bereits 1776 ein. Im Laufe des 19. Jahrhunderts folgten Pitcairn, Vélez, Wyoming, Colorado und Neuseeland, danach Australien, Finnland, Norwegen, Dänemark und Island. Nach dem Sturz des Zarenreiches konnten ab 1917 auch russische Frauen wählen. In Deutschland wurde das Frauenwahlrecht nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt, und zwar – fast zeitgleich mit Österreich – am 30. November 1918. An der Wahl zur deutschen Nationalversammlung vor hundert Jahren am 19. Januar 1919 konnten damit erstmals auch Frauen teilnehmen. Für Lingen bedeutete das, dass zum ersten Mal mehr als die Hälfte der Bevölkerung wahlberechtigt war.

Der Wahlkampf zur Nationalversammlung stellte in Lingen alle bisherigen in den Schatten und sollte auch in den Folgejahren nicht wiederholt werden. Angesichts des kirchenkritischen Kultusministers Adolph Hoffmann von der USPD befürchtete das Zentrum nicht weniger als einen zweiten Kulturkampf und agitierte entsprechend scharf gegen die Sozialdemokratie. Da zu den Volksversammlungen der Parteien auch politische Gegner kamen, konnte es dort mitunter recht wild hergehen. Von den wahlkämpfenden Parteien wurden Frauen schnell als neue Zielgruppe erkannt. Noch Ende November lud das Zentrum zu einer „Frauenversammlung“ ins Hotel Nave ein, wo Studienassessor Kosicki über die „Gefahren, die der christlich-konfessionellen Schule drohen“, sprach. Zu einer anderen Versammlung lud der Zentrumswahlverein im Januar ein und betonte zugleich: „Auch Frauen und Männer sind zu dieser Versammlung dringend eingeladen.“ Man fragt sich unwillkürlich, wen das Zentrum denn sonst noch erwartet hatte.

Die Lingener Frauenvereine veranstalteten eine „Versammlung der Frauen Lingens“, wo unter Leitung der Schulvorsteherin Clara Eylert die Oberlehrerin Büning zur Wahl bürgerlicher Parteien aufrief, um den Religionsunterricht zu erhalten. Und das Wochenblatt startete eine kleine Serie „Was die deutsche Wählerin wissen muß“. Dort wurde ihr etwa erklärt, was Kapital ist: „Die resolute Wählerin wird sagen: ‚(…) Was mein ist, das ist mein, und ich will keinem raten, sich daran zu vergreifen.‘ So sagt der schlichte Verstand. Aber die radikale soziale Lehre bestreitet eben das Recht auf Eigentum.“ Die geneigte Wählerin erfuhr dort auch, wo sie sich Rat suchen konnte: „Wer etwas nicht weiß, der muß fragen. (…) Eltern, Verwandte, gute Freunde, der Mann oder der Bräutigam.“ Auf den Lingener Wahllisten jedoch standen nur Männer. Außerhalb Lingens standen in der Region Osnabrück-Emsland durchaus einige Frauen zur Wahl, doch keine von ihnen schaffte den Sprung in die Nationalversammlung.

Dafür zogen im März 1919 zwei Frauen in das Lingener Bürgervorsteherkollegium (dem späteren Stadtrat) ein. Es waren Berta Graw (SPD) und Anna Fülle (Zentrum). Erstere gab ihr Amt jedoch keine drei Monate später wieder auf. Dafür lässt sich 1921 eine Frau Gauthier im Kollegium belegen, und 1923 rückte Clara Guth für den ausgeschiedenen Lehrer Detfurth nach. 1924 wurde neu gewählt, und für die nächsten zwanzig Jahre war der Stadtrat wieder ein reiner Männerverein. Erst 1946 saßen mit Helene Müller (SPD) und Elfriede Kesselmeyer (Zentrum) wieder zwei Frauen im Rat. Kesselmeyer ließ sich aber bereits im Oktober 1947 aus gesundheitlichen Gründen von ihrem Mandat entbinden.

1952 wurde Frieda Schinnagel (BHE – Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten) zur Ratsfrau gewählt. Ihr folgte 1956 die Kreisflüchtlingsbetreuerin Margarete Heinze (BHE) nach. Heinze war selbst als alleinerziehende Soldatenwitwe aus Schlesien geflohen. Ihr gelang als erste Ratsfrau die Wiederwahl, doch verlor sie im März 1964 durch einen Verkehrsunfall das Leben. Ihre Tochter, die Lehrerin Helga Heinze, gehörte dem Rat von 1964 bis 1968 an. 1956 zog auch Martha Krümpel (CDU) in den Rat ein, 1961 dann Elisabeth Feldhaus. Als Mitglied des Lingener Kreistages war Feldhaus auch Mitbegründerin der CDU-Frauenvereinigung des Kreises. Nachdem sie 1974 aus dem Stadtrat ausschied, wurde ihr 1975 die Ehrenbezeichnung „Ehrenratsherrin“ verliehen. Für die SPD saß von 1964 bis 1972 Trudi Schellmann im Rat.

 

Waren bisher nur zwei bis maximal drei Frauen im Lingener Stadtrat vertreten, konnten 1972 erstmals sechs Frauen einziehen. Damit lag der Frauenanteil plötzlich bei rund 15%. Zum Vergleich: In Städten zwischen 20.000 und 50.000 Einwohnern lag die Quote damals durchschnittlich nur bei rund 7%, im Bundestag waren es 5 bis 6%. In den folgenden Wahlen sank der Frauenanteil dann auch wieder auf zuletzt 5% im Jahr 1981. Danach nahm er kontinuierlich wieder zu, bis 2001 schließlich 16 Frauen in den Rat einzogen (38%). Es ist der höchste bisher erreichte Wert. Seitdem sinkt die Zahl der Ratsfrauen wieder. Bei der Wahl 2016 waren es noch zehn Frauen (24%), nach dem Rückzug von Stefanie Heider (CDU) und Natalie Baisakow (SPD) sind sie aktuell noch zu acht (19%). 1394 lassen sich in Lingen zum ersten Mal Ratsherren nachweisen. Sechshundert Jahre später – von 1995 bis 2000 – wurde die Stadt mit Ursula Ramelow erstmals von einer Frau repräsentiert.

Quellen und Literatur
Stadtarchiv Lingen, Allgemeine Verwaltung, Nr. 366, Nr. 367.
Stadtarchiv Lingen, Lingener Tagespost.
Stadtarchiv Lingen, Lingener Volksbote.
Stadtarchiv Lingen,
Lingensches Wochenblatt.
Stadtarchiv Lingen, Ratsprotokolle.
Catenhusen, Wolf-Michael: Parteien und Wahlen in Lingen 1871-1933, in: Ehbrecht, Wilfried (Hg.): Lingen 975-1975. Zur Genese eines stadtprofils, Lingen 1975, S. 214-249.
Vocks, Benno: Lingen wegweisend. 99 Straßen, Wege und Plätze. Porträts und Geschichte(n), Ahlen 2015.
Zieschang, Gundula: Frauen und ihr Einstieg in die Politik 1919, in: Arbeitsgemeinschaft Frauen in der Geschichte des Emslandes (Hg.): Uns gab es auch, Bd. 1, Lingen 1990, S. 147-152

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