Archivalie des Monats Mörz 2017

von Dr. Mirko Crabus

Die meisten kennen Henri Nannen als langjährigen Herausgeber und Chefredakteur des „Stern“. 1913 in Emden geboren, gründete er 1946 die Tageszeitung „Hannoversche Neueste Nachrichten“ und übernahm 1947 den Posten des Chefredakteurs der „Hannoverschen Abendpost“. Weniger bekannt ist, dass Henri Nannen zu dieser Zeit auch politisch aktiv war.

Der April 1947 stand im Zeichen des Wahlkampfes. Der niedersächsische Landtag, bisher von der britischen Militärregierung ernannt, sollte erstmals frei gewählt werden. In einer seiner letzten Sitzungen diskutierte der alte Landtag am 25. März den sogenannten Sozialisierungsantrag der SPD. Darin forderte sie die Vergesellschaftung diverser Verkehrs- und Industriebetriebe, um die Mitsprache der Arbeiterschaft zu stärken. Der Antrag wurde knapp abgelehnt, auch mit den Stimmen der FDP, die der SPD wahlagitatorische Motive unterstellte. Als am 31. März der alte Landtag zum letzten Mal tagte, war der Wahlkampf längst eröffnet.
Schon am 29. März hatte die SPD zu einem Vortrag von Heinrich Lange aus Kassel auf die Lingener Wilhelmshöhe eingeladen. Das Thema: „Kapitalismus oder Sozialismus“. Am 13. April – Ostersonntag – sprach auch Dr. Amelunxen, Zentrumsmitglied und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, vor großem Publikum auf der Wilhelmshöhe und erklärte die Zentrumspartei zur Partei der Mitte. Ebenfalls Ostersonntag, und zwar gleich nach der Messe, hielt der Zentrum-Landtagsabgeordnete Kassenbrock aus Osnabrück eine Rede in der Baccumer Wirtschaft Brömmelkamp. Am Ostermontag dann sprach der CDU-Mitbegründer Dr. Heinrich Vockel in Lingen und kritisierte Amelunxens Rede, in der die großen Fragen der Politik ja gar nicht vorgekommen seien.

 

Henri Nannen kommt nach Lingen

Am 18. April veröffentlichte der Kreiswahlleiter den Stimmzettel für den Wahlkreis Nr. 87, der neben dem Kreis Lingen auch die Orte von Bersenbrück umfasste. Kandidat der Zentrumspartei war der 44-jährige Bauer Gregor Dall, seit 1943 Bürgermeister von Laxten. CDU-Kandidat war der 1898 in Bramhar geborene Bauer Heinrich Kuhr, der erst ein Jahr zuvor die Zentrumspartei verlassen hatte. Für die SPD kandidierte kein Bauer, sondern der Lingener Gewerkschaftsangestellte Heinrich Melcher, für die KPD der Lingener Reichsbahnschlosser Heinrich Sanders. Nur der Kandidat der FDP war ortsfremd.

„Geben Sie mir für die Landtagswahl den schlechtesten Wahlkreis, den Sie finden können, und setzen Sie mich da als Kandidaten ein.“ Mit diesen Worten hatte sich Henri Nannen gegenüber der FDP in Hannover geäußert. Er bekam Lingen. Nannen berichtet: „Da habe ich erst mal in der ganzen Stadt nachts Plakate geklebt.“ Den Hinweis der Stadtverwaltung, daß „im Hinblick auf die für die Landtagswahl einsetzende Wahlpropaganda (…) die Mauern und Wände und die Außenseiten von Schaufenstern mit Plakaten nicht beklebt werden dürfen“, sondern „Plakate (…) nur an den amtlich zugelassenen Anschlagstellen und an der Innenseite der Schaufenster mit Genehmigung des Geschäftsinhabers“ angebracht werden dürfen, hat er dabei hoffentlich berücksichtigt. Auf den Plakaten stand: „Henri Nannen kommt nach Lingen“. Keiner wusste, wer das war.
Die angekündigte Rede hat Nannen dann auch gehalten. „Ich stand da und sah die Gesichter, und plötzlich hatte ich das Gefühl: ‚Du hast sie gepackt.‘ Da habe ich gedacht: um Gottes willen! Ich habe hinterher zu meiner Frau gesagt: ‚Nie in die Politik! Das ist ja eine teuflische Verführungskunst, wenn man einigermaßen reden kann.‘“ Die Berichterstattung in der Lingener Ausgabe des Neuen Tageblattes fiel da etwas prosaischer aus. Kurz und knapp meldete sie in ihrer Ausgabe vom 15. April: „Der Kandidat der FDP Henri Nannen stellte sich in Lingen und anderen Orten seines Wahlkreises vor und erläuterte das Programm seiner Partei.“

Am Sonntag, dem 20. April 1947, wurde zu den Wahlurnen gerufen. Auf der Wilhelmshöhe, im Gymnasium, der Castellschule, der Postschule und der Berufsschule waren Wahllokale eingerichtet. Mit 43,4 % wurde die SPD in Niedersachsen stärkste Kraft, gefolgt von der CDU mit 19,9 % und der nationalkonservativen Deutschen Partei mit 17,9 %. Die FDP erhielt 8,8 %, die KPD 5,6 % der Stimmen. Schlusslichter bildeten die Zentrumspartei mit 4,1 % und die monarchistisch angehauchte Deutsche Rechtspartei mit 0,3 %.
Im Wahlkreis Lingen – Hochburg der christlich-konservativ ausgerichteten Zentrumspartei – sahen die Ergebnisse anders aus. Hier kam die SPD auf gerade mal 20,4 %. Sie lag damit noch hinter der CDU mit 25,7 %. Mit Abstand stärkste Kraft wurde das Zentrum mit 41,8 %. Die FDP holte 9,7 %, immerhin mehr als auf Landesebene und mehr als die KPD mit 2,29 %. Landtagsabgeordneter des Wahlkreises Lingen war damit – nicht Henri Nannen, sondern der Zentrumskandidat Gregor Dall.

Dall sollte – mit Unterbrechung – bis 1963 im Landtag bleiben, wechselte zwischenzeitlich aber ins Lager der CDU. Henri Nannen hingegen verabschiedete sich von der Politik. Das lag nicht nur an seinen Erfahrungen im Lingener Wahlkampf. Im Juni 1947 sprach sich Nannen gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands aus und ging damit offen auf Konfrontation zum rechten Flügel der FDP. Und so konzentrierte er sich fortan wieder auf den Journalismus. 1948 rief er den „Stern“ ins Leben.

Quellen und Literatur
– Stadtarchiv Lingen, Neues Tageblatt, März/April 1947.
– Stadtarchiv Lingen, Ratsprotokolle der Stadt Lingen 1945-1958.
– Nannen, Stephanie: Henri Nannen. Ein Stern und sein Kosmos, München 2013.
– Naßmacher, Karl-Heinz: Parteien im Abstieg. Wiederbegründung und Niedergang der Bauern- und Bürgerparteien in Niedersachsen (Studien zur Sozialwissenschaft 86), Wiesbaden 1989.
– Vocks, Benno: Lingen wegweisend. 99 Straßen, Wege und Plätze. Porträts und Geschichte(n), Ahlen 2015.

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