von Dr. Mirko Crabus

Noch im 19. Jahrhundert endete der Bildungsweg für Frauen gewöhnlich mit dem Abgang von der Bürgerschule. Weiterführende Schulen, die sie hätten besuchen können, existierten in Lingen zunächst gar nicht. Das änderte sich 1831. Um dem Wunsch einiger Familien entgegenzukommen und den sinkenden Schülerzahlen entgegenzuwirken, richtete das Gymnasium Georgianum – zunächst versuchsweise – eine Höhere Töchterschule ein. Sie stand Mädchen nach dem Besuch der Bürgerschule offen. Die Schülerinnen stammten meist aus den protestantischen Familien der höheren Stände. Doch schon 1840 stand die Töchterschule vor dem Aus.

 

In Lingen war das Konzept einer Höheren Schule für Mädchen nicht unumstritten. Selbst Gymnasialdirektor Rothert sah sie grundsätzlich skeptisch, da sie „vom Hauptberuf des Weibes ab und zur Verbildetheit hinführe“. Zudem würde „die Eitelkeit auch die Töchter der Krämer, Handwerker und ähnlicher Klassen in sie hineinlocke[n]“, was sie „zu einer schlichten und tüchtigen Bürgerfrau untüchtig“ machen würde. Letztlich sprach sich Rothert aber doch für die Schule aus, da es im Lingener Land keine andere Schule „mit Ausschließung des eigentlichen Pöbels“ gebe, „der in eine Armen- oder Freischule gehört“. So siegte letztendlich Standesdünkel über Sexismus, und 1843 wurde die Höhere Töchterschule neu gegründet – jedoch nur, um wegen geringer Besuchszahlen 1851 erneut geschlossen zu werden.

 

Der Unterricht wurde dennoch fortgeführt, allerdings nur noch von einer einzelnen Lehrerin ohne Verbindung zum Gymnasium. Die Katholiken blieben auch dieser Privatklasse fern und gründeten 1862 ihre eigene Höhere Töchterschule. Und die konnte mit 30 bis 44 Schülerinnen bald eine ähnlich hohe Belegung vorweisen wie ihr de facto nun evangelisches Gegenstück. Das Ziel beider Schulen war die basal gebildete, gerne auch in der Wohlfahrtspflege engagierte Ehefrau und Mutter des gehobenen Bürgertums. Von einer den Jungen gleichwertige Schulbildung war das weit entfernt.

 

1909 gründete die Stadt eine eigenständige Höhere Mädchenschule für Schülerinnen aller Konfessionen. Eine der ersten Schülerinnen war Berta Gelshorn. Sie wurde 1901 als Tochter des Lingener Malermeisters Gelshorn geboren worden und hatte bereits drei Jahre lang die Bürgerschule besucht. Zu Ostern 1910 wechselte sie auf die Höhere Mädchenschule. Dort konnte man jedoch keinen Abschluss erwerben und sich danach höchstens noch zur Handarbeits-, Turn- oder Hauswirtschaftslehrerin ausbilden lassen. Die Schulleiterin Eylert drängte jedoch auf einen Unterricht nach dem Lehrplan der Höheren Schulen. So konnte Berta nach der vorletzten Klasse eine Prüfung ablegen und in die Abschlussklasse des Lyzeums in Rheine wechseln. Nach einem Jahr bestand sie dort die Prüfungen zur Mittleren Reife. Damit ist die nunmehr 17jährige Berta zum Besuch eines Oberlyzeums berechtigt. Noch sind das nichts anderes als höhere Lehrerinnenseminare. Das nächste Oberlyzeum befand sich in Münster, doch Berta ging stattdessen auf die städtische Studienanstalt Hannover. Erstmals steht plötzlich Latein auf ihrem Stundenplan. Um den Anschluss zu schaffen, muss sie sich privat die nötigen Lateinkenntnisse aneignen. Auf ihrem Abschlusszeugnis hatte die ansonsten gute Schülerin in Latein auch nur ein „genügend“.

 

Die Weimarer Republik eröffnete Frauen neue Möglichkeiten. Ihnen wurde das Wahlrecht zugestanden, und auch das Georgianum stand nun regulär Schülerinnen offen. Erstmals seit dem Scheitern der schuleigenen Töchterschule (1831-1851) und einer auch von Mädchen besuchten Vorschule (1834-1887) wurden wieder Schülerinnen aufgenommen. So kehrte Berta Gelshorn nach Lingen zurück und wechselte Ostern 1919 in die Unterprima des Georgianums. Zwar war sie dort zunächst nur als Hospitantin zugelassen, doch wurde ihr die Gastschulzeit später durch entsprechende Verfügung angerechnet. Erstmals hatte sie nun auch Griechischunterricht. Und wieder musste sie den Unterrichtsstoff privat nachholen.

 

1921 wurden sie und zwölf Mitschüler zu den Abiturprüfungen zugelassen. Ende Januar wurden die Klausuren geschrieben: Montag Deutsch, Mittwoch Griechisch, Freitag Mathe und Samstag Latein. Berta bestand alle Prüfungen mit einem „gut“, Mathematik sogar mit „sehr gut“. Von ihren Mitabiturienten erhielt sonst nur einer Bestnoten: Franz Demann, der spätere Bischof von Osnabrück, in Mathematik und Deutsch. Beide gehörten damit zu den fünf Schülern, deren Leistungen so gut waren, dass sie zur mündlichen Prüfung nicht mehr antreten mussten. Ein Kandidat fiel durch. Für alle anderen galten alle Prüfungen am 8. März als bestanden, und so war Berta Gelshorn vor genau hundert Jahren die erste Schülerin, die in Lingen das Abitur machte.

 

Nach ihrem Abitur nahm Berta Gelshorn ein Jurastudium auf. Nach Aufenthalten in Siegen und Recklinghausen kehrte sie im August 1933 ein letztes Mal nach Lingen zurück. Mittlerweile Gerichtsassessorin und Rechtsanwältin, heiratete sie im April 1934 den Rechtsanwalt Paul Humann. Sie folgte ihm nach Essen, wurde schwanger und war nach seinem Tod an der Ostfront 1941 mit vierzig Jahren plötzlich alleinerziehende Mutter von drei Töchtern. Sie starb 1989 in Essen.

 

Genau zwei Wochen nach den bestandenen Abiturprüfungen veranstaltete der Katholische Frauenbund am 22. März 1921 in Lingen einen Vortragsabend über Frauenbildung und Frauenberuf. Hier sprach man sich deutlich für den Besuch von mittleren und höheren Mädchenschulen aus, auch wenn deren Aufgabe lediglich die „Erziehung zum hausmütterlichen Berufe“ sein sollte. Der Vortrag war nur schlecht besucht. So überrascht es nicht, dass ein Ausbildungsweg wie der von Berta Gelshorn die Ausnahme blieb. Bis 1943 legten am Georgianum lediglich elf Schülerinnen das Abitur ab. Neben Berta Gelshorn waren es Hanna-Marie Fueß (1928), Ellen Weinmann (1929), Carla Grüter und Theodore Meyer (1931), Hermine Niebuhr (1936), Johanna Günther und Ilse Mohrmann (1938), Jutta Rohloff (1942), Dorothea Jahn und Almuth Staedtke (1943). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Zahl der Lingener Abiturientinnen zu.

 

 

Quellen und Literatur

  • Stadtarchiv Lingen, Lingener Volksbote vom 9.3. und 26.3.1921.
  • Stadtarchiv Lingen, Lingensches Wochenblatt vom 8.3.1921.
  • Stadtarchiv Lingen, Melderegister.
  • Stadtarchiv Lingen, Personenstandsregister.
  • Beesten, Werner v.: Beiträge zur Chronik der Stadt Lingen aus den Jahren 1860 bis 1880, Lingen 1880.
  • Begger, Clara: Stationen des höheren Töchterschulwesens in der Stadt Lingen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Arbeitsgemeinschaft Frauen in der Geschichte des Emslandes (Hg.): Uns gab es auch, Bd. 2, Sögel 1993, S. 82-92.
  • Buss, Heinz: Die Anfänge eines gegliederten Schulwesens in Lingen. Aus der Schulgeschichte des Lingener Gymnasiums, in: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 66 (2020), S. 217-238.
  • Landkreis Emsland/ Gymnasium Georgianum Lingen (Hg.): 325 Jahre Gymnasium Georgianum 1680-2005, Lingen (Ems) 2005.
  • Rickling, Hanni: Die städtische Höhere Mädchenschule in Lingen. Frauenbildung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Arbeitsgemeinschaft Frauen in der Geschichte des Emslandes (Hg.): Uns gab es auch, Bd. 2, Sögel 1993, S. 93-120.
  • Schriever, Ludwig: Geschichte des Kreises Lingen, 2. Teil. Geschichte der einzelnen Kirchspiele, Lingen (Ems) 1978.

Skutella, Martin: Die Lingener Abiturienten 1832-1933 (Georgiana Lingensia 2), Lingen-Ems 1933.Archivalie des Monats März 2021

von Dr. Stephan Schwenke

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