Archivalie des Monats Januar 2023
von Dr. Mirko Crabus
Neujahrstage sind Kuchentage. Im Osnabrücker Land nannte man den Kuchen „Piepkoken“, in der Grafschaft Bentheim „Schohsollen“. Im Emsland war es der „Naijoarskouken“. Während des ganzen Silvestertages wurde auf den Bauernhöfen gebacken. Dazu benötigte man eine lange Eisenzange, an deren Ende sich zwei runde, mit verschiedenen Mustern verzierte Platten befanden, in die der pfannkuchenähnliche Teig gegossen wurde. Und man brauchte viele Kuchen. Selbst während des Essens musste jemand am Herd bleiben, um das Backen nicht zu unterbrechen. Allein ihren Knechten und Mägden waren die Bauern traditionell 100 bis 140 Stück schuldig, und auch die Kinder forderten ihren Anteil. Am Neujahrsmorgen liefen sie von Haus zu Haus und riefen „Glückselges Neijoar! Sind de Koken oll kloar?“ Und so bekamen auch sie ein oder zwei Kuchen. Jedes Kind wollte „Neijoar abwinnen“, also der oder die erste sein, die den Neujahrskuchen bekam. War das erste Kind, das fragte, ein Junge, so brachte das Unglück, ein Mädchen brachte Glück.
Das Austragen von Wärpelrauten (Dornenruten) am Silvesterabend war (und ist zum Teil noch) vor allem auf dem Hümmling und im Oldenburger Land Tradition. Die Wärpelraute war ein mit Flitterpapier, Äpfeln und Lichtern geschmückter Zweig. Das konnte ein Wacholder- Ilex- oder Tannenzweig sein oder auch ein langstieliger Kohlkopf. Sie wurde nachmittags von Kindern, abends von Verwandten und Nachbarn mitgebracht, die dafür eine gute Bewirtung erwarten konnten. Es war aber auch ein besonderes Geschenk eines jungen Mannes an seine Geliebte. Dabei schlich er nachts ans Elternhaus, warf die Wärpelraute lärmend in die Küche und ergriff die Flucht – allerdings nur scheinbar. Denn schließlich ging es darum, erwischt und an den Tisch geladen zu werden.
Ein ähnlicher Brauch ist die Tunschere (Zaunschere?), die aber ursprünglich nur am Vorabend des Dreikönigstages verschenkt wurde. Da sie aufwendiger herzustellen ist, übernahm das in einigen Dörfern ein Tunscherenkerl oder eine Tunscherenfrau, die zum Verkauf von Haus zu Haus gingen. Ein entrindeter Weidestab wurde entweder am Kopfende in Holzfäden geschnitten oder zum Halbkreis gebogen und auf ein Brettchen gestellt. Hinzu kamen dann wahlweise Papierkränzchen mit Flittergold, kleine Fläschchen und Buntpapier, außerdem Kerzenlichter, Äpfel und ein Brief. Das Überreichen der Tunschere – zumindest bei brennenden Kerzen war Überreichen besser als Werfen – wurde von dem Ruf „Wäp! Wäp!“ begleitet. Oft wurde sie aufgehoben und das nächste Jahr weiterverschenkt. Die Tunschere war im Nordosten des Altkreises Lingen, im ehemaligen Kreis Bersenbrück und im Oldenburger Raum sehr verbreitet.
Nicht zuletzt war (und ist) der Jahreswechsel aber auch mit einer Menge Lärm verbunden. Junge Leute tobten mit Peitschenknallen, Kettenrasseln und Getöse durch die Straßen, es wird mit Schafsglocken geläutet, gesungen, trompetet und geschossen. Die Kinder schossen mit ihren Kinderpistolen, die Erwachsen mit schweren Hinterladern, die sie sonst für die Jagd benutzten. Kugeln wurden dabei freilich nicht verwendet. Es wurde lediglich Pulver in den Lauf geschüttet und etwas Zeitungspapier darauf gestopft. Um die Feuergefahr und allzu große Exzesse in der Silvesternacht zu verringern, verbot der Lingener Magistrat am 29. Dezember 1746, auf Neujahr in der Stadt zu schießen. Berufen konnte er sich dabei auf ein schon 1739 erlassenes königliches Edikt. Der Ausrufer und die Stadtkorporäle hatten das umgehend in der Stadt zu verkünden. Und die Kapitäne von Kalbbe und von Köppern wurden ersucht, ihren hiesigen beurlaubten Füsilieren das Schießen ebenfalls zu verbieten, was diese auch sofort taten.
Und natürlich wurde am Silvesterabend nicht nur gelärmt, sondern auch getrunken. Am 1. Januar 1772 erschien der Stadtknecht Everd Bloome vor dem Lingener Magistrat und zeigte an, dass Morgensterns Sohn sich in der Neujahrsnacht unterstanden habe, entgegen der Verordnung des Magistrats unweit von Smits Haus zu schießen, und zwar in seiner eigenen und Piepmeyers Gegenwart. Also forderte der Magistrat Morgenstern und seinen Sohn zu sich. Doch die stritten das ab und waren auch bereit, das eidlich zu bekräftigen. Schließlich musste Bloome eingestehen, dass er bei seiner Anzeige ziemlich betrunken gewesen war und nicht gewusst hätte, was er da sagte. Er zog also seine Anzeige zurück, und der Magistrat konstatierte, dass „der Blome mit lauter Lügen umgegangen und seine Denunciation grundfalsch sey“. Der Stadtknecht wurde zu einem Gulden Strafe verurteilt, die der Kämmerer Nyhof von seinem Gehalt abziehen sollte. Außerdem wurde Bloome ermahnt, sich fortan eines besseren Betragens zu befleißigen. Wenn das kein guter Vorsatz für’s neue Jahr ist…
Quellen und Literatur
- StadtA LIN, Altes Archiv, Nr. 247, 2870 und 4350.
- StadtA LIN, Fotoserien, Nr. 1001, Bild 61.
- Bojer, Reinhard: Heimatkundliche Aufsätze aus den Tageszeitungen der NS-Zeit 1933-1945. Altkreise Lingen, Meppen, Aschendorf-Hümmling, oO. OJ.
- Emsländische und Bentheimer Familienforschung, Heft 54, Bd. 1 (April 2000), S. 106.
- Fritze, B.: Sitte und Brauchtum. „Näijoarskouken und Tunscheren“ (Mskr), in: StadtA LIN, Allg. Slg., Nr. 604.
- Kreislehrerverein des Kreises Hümmling (Hg.): Der Hümmling. Ein Heimatbuch, Osnabrück 1929.
- Kip, Georg: Neujahrslieder zum Klang des Wächterhorns und der Knarre, in: Emslandjahrbuch 2 (1965), S. 122-126.
- Unsere Heimat. Lesebogen für die Schulen des Kreises Lingen/Ems, Lingen/Ems 1951.
- Wessels: Neujahrssitten, in: Jahrbuch des Emländischen Heimatvereins 3 (1955), S. 135-142.