Archivalie des Monats Juli 2023

von Dr. Mirko Crabus

Am 1. Juni 1927 wurde Lingen von einer schweren Wirbelsturmkatastrophe heimgesucht. Es heisst, dass der Sturm so sehr tobte, dass er eine Schneise der Verwüstung vom Wall bis in die Innenstadt zog und auf diese Weise die – deshalb so benannte – Sturmstraße entstand. Nun: ein wenig komplizierter war es schon… 

Die Sturmstraße führt über eine Fläche, die ursprünglich zum Grundstück der Stöve’schen Apotheke gehörte. An der Elisabethstraße standen auf dem Grundstück drei Gebäude: das Hauptgebäude (Nr. 20), in der sich auch der Verkaufsraum der Apotheke befunden hatte, sowie ein Nebenhaus zur Linken (Nr. 18) und das ehemalige Laboratorium der Apotheke zur Rechten (Nr. 22). 1921 boten die Erben des Senators Ludwig Stöve das Grundstück – alle drei Gebäude inklusive Haus- und Obstgarten – der Stadt zum Verkauf an, und die willigte noch im selben Jahr ein. Die Kaufsumme betrug 275.000 Mark, und die Verkäufer verpflichteten sich, etwaige auf dem Grundstück liegende Lasten abzulösen. Doch dann weigerte sich die Familie Stöve plötzlich, den vertraglich bereits abgeschlossenen Verkauf auch zu vollziehen. Grund war, dass die Immobilie überraschenderweise mit einer Hypothek von 5000 Gulden zugunsten der Lingener Waisenkasse belastet war, und die müßte die Familie bei einem Verkauf nun zurückzahlen – bei aktueller Inflationslage wären das rund 2,5 Millionen Mark. Dass der Arzt Raeschke, der sich erst kürzlich mit seiner Praxis in die alte Apotheke eingemietet hatte, ebenfalls versuchte, das Grundstück zu erwerben, verkomplizierte die Angelegenheit noch. Die Stadt legte schließlich Klage gegen die Erben Stöve ein. Doch erst nach langem Hin und Her gelang eine Einigung, die der Familie die Ablösung durch ein anderweitiges Grundstück erlaubte. Im Juli 1923 erklärte sie sich schließlich zur Auflassung des Grundstücks bereit.

Im Dezember 1923 beschlossen die städtischen Gremien, das ehemalige Laboratorium (Elisabethstraße 22) abzureißen. So sollte Platz geschaffen werden für einen Weg, der die Gartenanlage durchschneiden und die Elisabethstraße mit der Straße Am Wall verbinden sollte. Die anfallenden Kosten sollten durch den Verkauf des Abbruchmaterials des Hauses gedeckt werden. Bald lag eine entsprechende Bauskizze vor. Das Problem war nur: das Haus war vermietet, und zwar an Eduard Taubken, der hier mit seiner neunköpfigen Familie wohnte und eine Malerwerkstatt betrieb. Die Stadt setzte also wegen allgemeinen öffentlichen Interesses beim Amtsgericht die Kündigung Taubkens durch, versprach die Stellung einer Ersatzwohnung und setzte ihn auf die Liste der Wohnungssuchenden. Doch die allgemeine Wohnungsnot in Lingen war groß, und so geschah erst einmal gar nichts.

Das ehemalige Laboratorium indes befand sich in einem zunehmend schlechten Zustand. Im Oktober 1924 bat Taubken deshalb um eine Reparatur. Es gebe Lücken im Dach, die Fenster seien nicht winterfest und der Fußboden so morsch, dass „jedes Stuhlbein durchtritt“. Da der Abriss bevorstand, bewilligte die Stadt aber nur eine notdürftige Reparatur. Im Spetember 1925 meldete sich Taubken erneut. Das von ihm bewohnte Haus sei in einem Zustand, dass es „nicht mehr als menschliche Wohnung angesehen werden kann“. Auf keinen Fall wolle er mit seiner Familie hier noch einen Winter zubringen. Seit Februar letzten Jahres sei er gekündigt und werde seitdem mit dem Versprechen auf eine andere Wohnung hingehalten. Also bitte er „nochmals“ und „mit allem Nachdruck“, dass das Haus „vollständig durchrepariert“ werde. Doch wieder wurden nur die allernotwendigsten Reparaturen durchgeführt. Auf Vermittlung des Magistrats konnte Taubken 1926 schließlich das Haus Am Wall 4 kaufen. Die dortigen Mieter sollten das Haus bis Januar 1927 räumen. Doch das taten sie nicht, und so verbrachte die Familie Taubken doch noch einen Winter in der Elisabethstraße. 

Am 1. Juni 1927 tobte der Wirbelsturm, und auch die Häuser der alten Apotheke wurden in Mitleidenschaft gezogen. Bürgermeister Gilles beschrieb die Situation wie folgt: „Die von Herrn Dr. Bergmann bewohnte frühere Stövesche Apotheke ist völlig ihres Daches beraubt und der alte stabile Bau bis in die Grundfesten erschüttert. Eine Glasveranda ist spurlos weggeweht. Die Möbel im Zimmer des Hauses bilden mit den aus den Angeln geschleuderten Fenstern und Türen einen wüsten Trümmerhaufen. In den in diesem Gebiet liegenden Gärten herrschte ein wüstes Durcheinander. Die Obstbäume sind entwurzelt, die Beete usw. verwüstet.“ Viele Lingener Familien verloren durch den Sturm ihre Unterkunft und mussten bei Freunden oder Verwandten unterkommen. Und auch die Familie Taubken musste nun notgedrungen in eine eilig geräumte Wohnung des Hauses Am Wall 4 ziehen. 

Die Malerwerkstatt verblieb jedoch in der Elisabethstraße 22. Und die hat im Sturm schwer gelitten. Das Dach war nun fast vollständig zerstört und die Farben in der Werkstatt waren nicht mehr trocken unterzustellen. Die Stadt aber weigerte sich, das Dach zu reparieren. Taubken schaltete daraufhin einen Anwalt ein und forderte, das Dach wenigstens notdürftig mit Dachpappe zu bedecken. Die Stadt bot im Gegenzug Bretter an, um im Garten Am Wall 4 einen Verschlag für die Werkstatt zu errichten. Man wurde sich nicht einig. Und so forderte die Stadt Taubken ultimativ auf, die Elisabethstraße 22 zu räumen. Zwar bemühte sich Taubken noch um Alternativen, doch letztlich nahm er das Angebot der Stadt an, die Werkstatt in das ehemalige Sägewerk am Hüttenplatz zu verlegen. 

Am 26. Juli 1927 wurde das ehemalige Laboratorium abgerissen. Es war das einzige Gebäude, das der neuen Straße im Wege stand. Die Straße, die das Hinterland jenseits der äußeren Stadtbebauung verkehrsmäßig erschließen sollte, erhielt schließlich den Namen Sturmstraße. Das Hauptgebäude der alten Apotheke aber wurde 1945 bei der Einnahme Lingens durch britische Truppen vollständig zerstört. 

 

Quellen und Literatur

  • StadtA LIN, Albenslg., Nr. 45.
  • StadtA LIN, Altes Archiv, Nr. 527, Nr. 6144, Nr. 6145.
  • StadtA LIN, AV-Medien, Nr. 244.
  • StadtA LIN, Fotoslg, Nr. 1982.
  • Remling, Ludwig: Der Kampf um Lingen Anfang April 1945, in: Emsländische Geschichte 22 (2015), S. 186-211.
  • Eiynck, Andreas: Hochwasser und Wirbelstürme. Das Wetter im Emsland (Teil 2), in: Kivelingszeitung 1996, S. 125-131.
  • Gilles: Die Wirbelsturm-Katastrophe in Lingen-Ems am 1. Juni 1927 und ihr Zerstörungswerk, Lingen (Ems) 1927.
  • Strickmann, Hanni: Über die Straßennamen in Lingen, in: Hilkenbach, Friedrich (Hg.): Lingener Heimatkalender auf das Jahr 1954, Lingen-Ems 1954, S. 57-70.

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