Der Kartoffelkäfer – Kriegswaffe und Bekämpfung im Kreis Lingen
von Joachim Schulz
Der Kartoffelkäfer ist eigentlich ein schöner schwarz-gelber Käfer. Wissenschaftlich heißt er Leptinotarsa decemlineata, was übersetzt Zehnstreifen-Läufer bedeutet. Der kleine Käfer hat sich jedoch in der Historie nicht beliebt gemacht bei den Menschen, deren Kartoffeläcker er kahlfraß. Unsere Eltern und Großeltern können heute noch vom Kartoffelkäfersammeln berichten. Viele erinnern sich daran, wie sie als Schüler in langen Kartoffelfurchen gestanden haben und in gebückter Haltung die Käfer und ihre Larven von den Blattunterseiten sammelten.
Käfer bilden bis zu zwei Generationen pro Jahr. Die Käfer legen im Juni an der Blattunterseite der Kartoffelpflanze gelbe Eier ab. Insgesamt sind es pro Weibchen etwa 1200 Eier. Aus den Eiern schlüpfen nach 3 bis 12 Tagen die Larven. Sie sind rötlich und haben an den Seiten und am Kopf schwarze Punkte. Die Larven wachsen schnell heran. Nach 2 bis 4 Wochen kriechen sie in die Erde, um sich dort zu verpuppen. Nach ungefähr zwei weiteren Wochen schlüpfen die Kartoffelkäfer, die jedoch noch mindestens eine Woche im Boden bleiben.
Colorado Beetle arrived New York
Der Kartoffelkäfer ist ein Neozoon, also ein Tier, das von seiner eigentlichen Heimat in andere Regionen eingeschleppt wurde und dort heimisch geworden ist. Er stammt ursprünglich aus dem amerikanischen Bundesstaat Colorado, daher auch der engl. Name „Colorado Beetle“. Er lebte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Westen der USA, völlig harmlos, auf einer in Europa unbekannten Nachtschattenart, der Büffelklette. Als sich in den USA mit dem Bau der Pazifik-Eisenbahn der Kartoffelanbau entwickelte, entdeckte der Käfer das Kartoffellaub, fraß ganze Felder kahl und gelangte so in die Hafenstädte. Auf die Schlagzeile „Colorado potato beetle arrived at New York harbour“ reagierte das Deutsche Reich mit einem Importverbot für amerikanische Kartoffeln. Mit den Schiffen kam der Kartoffelkäfer nach Europa und trat dort erstmals in der Nähe großer Hafenanlagen auf. In Deutschland wurde er 1877 nicht weit vom Duisburger Rheinhafen, bei Köln-Mühlheim und bei Torgau an der Elbe gefunden.
Wehrmacht gründet Kartoffelkäfer-Abwehrdienst
Der Kartoffelkäfer konnte sich in Frankreich während des I. Weltkriegs infolge amerikanischer Militärtransporte in der Garonne-Mündung festsetzen. 1914 wurde ein Befallsherd an der Unterelbe, unweit des Hamburger Hafen mit einem großen Aufwand ausgelöscht. Käfer und Larven wurden hier auf einer drei Hektar großen Kartoffelfläche von 200 Soldaten abgesucht. Das Kartoffelkraut wurde in Kalkgruben geschüttet und mit Benzol übergossen.
In den dreißiger Jahren überflog der Kartoffelkäfer dann auch die deutsch-französische Grenze. Während des Ersten Weltkriegs sprachen die Deutschen vom „Franzosenkäfer. Es wurde seinerzeit behauptet, Frankreich habe den Kartoffelkäfer mit Flugzeugen über deutschem Gebiet abgeworfen. Die militärische Antwort folgte prompt: 1935 wurde auf Vorschlag der Biologischen Reichsanstalt der „Kartoffelkäfer-Abwehrdienst (KAD)“ der Deutschen Wehrmacht gebildet. Im Krieg wurde der KAD vom „Reichsnährstand“ geleitet. Verantwortlich waren die jeweiligen Gemeinden, im Kreis Lingen die Bürgermeister. Sie bedienten sich der Kreisbauernschaft Lingen, die ihrerseits Vertrauensleute und fachlich versierte Personen für die Bekämpfungsmaßnahmen benannte.
Sei ein Kämpfer, sei kein Schläfer, acht‘ auf den Kartoffelkäfer!
Während des Nationalsozialismus wurde die Kartoffelkäfer-Fibel vom Kartoffelkäfer-Abwehrdienst an alle Schulkinder verteilt. Die Schulen leisteten Aufklärungsarbeit durch Unterricht und stellten Lehrer als Kolonnenführer ab. Im Kreis Lingen wurden von Ende Mai bis Mitte August Suchkolonnen gebildet, die die Kartoffelfelder absuchen mussten. Jede Suchkolonne bestand aus 10 bis 12 Personen und suchte rund zwei Stunden unter Leitung eines Kolonnenführers oder seines Helfers. Wer auf einem bisher als nicht befallen geltenden Kartoffelfeld den ersten Käfer oder die erste Larve fand, erhielt eine Belohnung oder eine Ehrennadel. Stark befallene Äcker wurden gerodet, der Boden mit Schwefelkohlenstoff entseucht und alle Kartoffelfelder im Umkreis von einigen Kilometern mit giftigem Bleiarsen, später mit dem ebenso giftigen Kalkarsen besprüht.
Kartoffelkäfer als Kriegswaffe
Im Zweiten Weltkriegs beschuldigten sich Großbritannien und Deutschland gegenseitig, Kartoffelkäfer über dem feindlichen Gebiet abzuwerfen. Dass englische Flugzeuge Kartoffelkäfer über Deutschland abgeworfen haben, ist bis heute nicht belegt. Jedoch ist nachgewiesen, dass die deutsche Wehrmacht 1943 Kartoffelkäfer züchtete und 14 000 Stück bei Speyer über der Pfalz abwarf, um zu testen, ob sie den Fall aus 8 000 Meter Höhe überstehen. Sie taten es. Als biologische Waffe kamen sie jedoch nie zum Einsatz.
Bekämpfungsmaßnahmen werden neu organisiert
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Kartoffelkäferbekämpfung neu organisiert. 1946 verfügt der Regierungspräsident zu Osnabrück, dass an die Stelle des „KAD“ mit allen zufallenden Aufgaben das Pflanzenschutzamt der Landesbauernschaft tritt. Es gibt einen straff organisierten Suchplan im Kreis Lingen. Verpflichtet ist die gesamte Bevölkerung, einschl. der Kinder ab 10 Jahren, dabei sind „Fälle bösartiger Weigerung der Polizei zu melden“. Der Befall muss über Vertrauensleute an Diplom- Landwirt Adrian von der Bezirksstelle des Pflanzenschutzamtes Emsland, damals noch mit Sitz in Emsbüren, gemeldet werden. Danach wird über den Einsatz von chemischen Spritz- und Stäubemitteln entschieden. Erst mit der Richtlinie des Pflanzenschutzamtes der Landwirtschaftskammer Weser-Ems von 1950 ersetzte man die Suchaktionen durch „regelmäßig durchzuführende Feldbegehungen durch die Nutzungsberechtigten“.
Kartoffelkäferpropaganda im Kalten Krieg
Ab 1950 wurde in der DDR das Gerücht gestreut, dass die Amerikaner Kartoffelkäfer – die sog. Amikäfer über der DDR abwerfen, um die sozialistische Landwirtschaft zu gefährden. Mit diesem Fake sollte die Angst vor den USA im Kalten Krieg geschürt werden. Die SED blieb noch lange bei der Legende vom amerikanischen „Karl Kahlfraß und seinem Lieschen“. Und so wurden in der DDR noch bis in die 1960er Jahre Schulkinder mit Marmeladengläsern zum Kartoffelkäfersammeln auf die Felder geschickt.
Flüchtlinge als Kartoffelkäfer verunglimpft
Eine ganz andere Wortbedeutung erhielten die Kartoffelkäfer in der Nachkriegszeit. 1950 zählte die Statistik im Kreis Lingen über 13.000 Vertriebene, überwiegend aus Schlesien, Ost- und Westpreußen und Pommern. Die einheimische Bevölkerung litt nach dem Krieg unter großer wirtschaftlicher Not. Flüchtlinge waren nicht überall willkommen und so wurden sie manchmal als Kartoffelkäfer bezeichnet. An den Spruch „die Drei großen Übel, das waren die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge“ konnte sich mein Vater Georg Schulz, Heimatvertriebener aus Pommern, noch schmerzlich erinnern.
Abb.1: Die Kartoffelkäferfibel
Abb.2: Karl Kahlfrass Grafik aus der DDR
Abb.3: Merkblatt Kartoffelkäfer-Abwehrdienst
Quellen:
– Eiynck, Andreas, Alte Heimat – Neue Heimat, Lingen 1997
– Industrieverband Agrar, Magazin, Frankfurt am Main 2018
– Stadt-Archiv Lingen, Hüvede-Sommeringen, 67, Kartoffelkäferbekämpfung 1938 – 1946
– Stadt-Archiv Lingen, Holthausen Biene, 461, Kartoffelkäferbekämpfung, 1946 – 1955
– Stadt-Archiv Lingen, Schulen Laxten, 5, Kartoffelkäfersuchaktion, Schulelternrat, 1946 – 1955
– Schulmuseum im Ortsteil Lohr-Sendelbach, Lohr am Main 2011