
1050 Jahre Lingen
Von Dr. Christof Spannhoff
Das Jubiläum „1050 Jahre Lingen“ basiert auf der Erwähnung eines Ortes namens „Liinga“ in einer Urkunde Kaiser Ottos II. vom 25. April 975. Doch ist dieses „Liinga“ tatsächlich identisch mit dem heutigen Lingen an der Ems? Und wie authentisch ist das Dokument selbst? Der folgende Beitrag widmet sich der historischen Analyse der Urkunde, ihren Inhalten, ihrer Überlieferung sowie der Diskussion über die geographische Verortung des genannten Ortsnamens.
Die Urkunde von 975 im historischen Kontext
Am 25. April 975 unterzeichnete Kaiser Otto II. in Boppard am Rhein eine Urkunde, mit der er dem Bischof Liudolf von Osnabrück verschiedene Besitzungen zurückschenkte, die dieser ihm zuvor übertragen hatte. Die Rückgabe umfasste Ländereien, Höfe, Gebäude, abhängige Bauern, Nutzungsrechte, Einkünfte, Wiesen, Wälder, Gewässer und Mühlen. Der genaue Anlass dieser Transaktion ist unklar; möglicherweise diente sie der rechtlichen Absicherung kirchlichen Eigentums oder hatte politische Beweggründe im Rahmen der kaiserlichen Herrschaftsfestigung in Nordwestdeutschland.

Die beteiligten Akteure – Kaiser Otto II.
Kaiser Otto II. (955–983), Sohn Ottos des Großen und Adelheids von Burgund, regierte ab 973 als Alleinherrscher des Heiligen Römischen Reiches. Er stammte aus der Adelsfamilie der Liudolfinger. Bereits in jungen Jahren wurde Otto durch seinen Vater Otto (I.) den Großen 961 zum Mitkönig und 967 zum Mitkaiser erhoben, um ihm die Nachfolge zu sichern. Seine Mutter war Adelheid von Burgund. Als nach 37-jähriger Herrschaft sein Vater verstarb, trat der erst 18-jährige Otto 973 die Alleinherrschaft an. Ein Jahr zuvor hatte Otto die byzantinische Prinzessin Theophanu geheiratet. Sein Herrschaftsantritt war von zahlreichen Konflikten mit den Adligen des Reiches geprägt. Auch fiel der Dänenkönig Harald Blauzahn mit seinen Truppen in die nördlichen Gebiete ein. Im Jahr 975 war der junge Kaiser daher unablässig auf Reisen, um Verhandlungen zu führen und Verbündete zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Güterübertragung an den Osnabrücker Bischof Liudolf zu sehen, den er dadurch möglicherweise enger an sich binden wollte. Nach nur zehnjähriger Herrschaft verstarb der Monarch 983 plötzlich und unerwartet an den Folgen einer Malaria-Infektion. Der dreijährige Sohn Otto III. wurde drei Wochen nach dem Tod seines Vaters am Weihnachtsfest des Jahres 983 in Aachen zum König geweiht. Die Regentschaft übernahm zunächst Theophanu, nach deren Tod 991 die Großmutter Kaiserin Adelheid (+ 999).

Bischof Liudolf von Osnabrück
Der in der Urkunde begünstigte Bischof Liudolf von Osnabrück (amtierend 968–978) stammte aus dem Adelsgeschlecht des Sachsenführers Widukind und war ein Blutsverwandter Ottos II. Liudolfs Mutter war Aldburg, die zwischen 968 und 978 die Kirche in Essen bei Oldenburg stiftete und mit Grundbesitz ausstattete. Über sie wird der Bischof mit der Widukind-Familie verwandt gewesen sein, weil auch die Frau des besagten Widukind-Enkels den Namen Aldburg trug. Liudolf war zudem ein Blutsverwandter der Kaiser Otto I. und Ottos II. (consanguineus), wobei die genaue genealogische Beziehung unbekannt ist. Vermutlich bestand sie aber über seinen Vater. Vor seiner Erhebung zum Bischof 968 war Liudolf in der königlichen Kanzlei tätig, arbeitete also in der Verwaltung von Ottos Vater, Otto dem Großen. 975 erstattete nun der Kaiser dem Osnabrücker Bischof Eigengüter aus dessen Familienerbe zurück, die Liudolf Otto einst geschenkt hatte. Bereits drei Jahre später – 978 – verstarb Liudolf.

Bernhard I. stammte aus der Familie der Billunger
Der dritte in der Urkunde genannte Akteur ist Herzog Bernhard I. von Sachsen (reg. 973–1011) aus dem Haus der Billunger. Bernhard war ältester Sohn Hermann Billungs und damit dessen Nachfolger. Er war verheiratet mit einer Hildegard. Das Paar hatte mindestens fünf Kinder, nämlich den jung verstorbenen Hermann, den späteren Herzog Bernhard II., den Grafen Thietmar, die Tochter Godesdiu, die Äbtissin von Metelen und von Herford war, und die Tochter Imma, die als Stiftsdame bei ihrer Schwester in Herford lebte.
Bernhard war ein enger Vertrauter und Verbündeter der ottonischen Kaiser. Am Ende seines Lebens gehörte er zu den mächtigsten Personen in Nordwestdeutschland. Er und seine Frau starben 1011 an der Pest. Beide wurden im Hauskloster der Billunger St. Michaelis auf dem Kalkberg in Lüneburg begraben.

Die Überlieferung und Echtheit der Urkunde
Die Urkunde von 975 war lange Zeit nur in zwei spätmittelalterlichen Abschriften bekannt. Die sogenannten Osnabrücker Kaiser- und Königsurkunden wurden von der Osnabrücker Kirche über Jahrhunderte unter Verschluss gehalten und waren für Außenstehende nicht einsehbar. Das hatte auch seinen guten Grund: Denn ein Großteil der Dokumente, die dem Bistum seine Rechte, Besitzungen und Einkünfte verbrieften, war gefälscht. Das Versteckspiel endete erst mit dem Tod des Osnabrücker Bischofs Dr. Bernhard Höting am 21. Oktober 1898. Dieser hatte in seinem Testament verfügt, dass die in seinem Besitz befindlichen Urkunden nun endlich der Geschichtswissenschaft zur Verfügung gestellt werden sollten. Der aus Glandorf im südlichen Osnabrücker Land stammende, münsterische Privatdozent für germanische Philologie Franz Jostes wurde mit einer wissenschaftlichen Ausgabe betraut, die er bereits 1899 vorlegte. Erst seit dieser Zeit sind der historischen Forschung die Originale – und die zahlreichen Fälschungen – bekannt, die in die Frühzeit des Bistums Osnabrück zurückführen. Die Urkunde von 975 mit der Ersterwähnung Lingens wurde jedoch durch zahlreiche diplomatische Untersuchungen als echt identifiziert.
Kriterien für die Echtheitsprüfung
Die Diplomatik als historische Hilfswissenschaft prüft mittelalterliche Urkunden anhand formaler und inhaltlicher Kriterien. Diese historische Wissenschaft entwickelte sich seit dem 17. Jahrhundert. Im Mittelalter wurde viel gefälscht. Es gab regelrechte Fälscherwerkstätten, vor allem in den Klöstern, von denen die Schriftkultur gepflegt wurde. Die Motive waren unterschiedlich. Neben der bewussten Fälschung im heutigen Sinn stehen Fälle, in denen man durch die Rekonstruktion verloren gegangener Texte dem bestehenden Recht Geltung verschaffen wollte. Man besaß also gewisse Berechtigungen, hatte aber keinen Nachweis mehr darüber, den man dann eben selbst herstellen musste.
Die Geschichtswissenschaft erkennt heute Fälschungen an inhaltlichen Unstimmigkeiten und an formalen Merkmalen:
- wenn die Schrift nicht in die angebliche Entstehungszeit passt,
- wenn das Siegel nicht aus diesem Jahrhundert stammen kann,
- wenn die Urkunden eines Königs sonst ganz anders aussehen.
Das sind wichtige Kriterien zur Echtheitsbestimmung. Oft sind aber auch nur einzelne Bestandteile verfälscht, das heißt: Textabschnitte wurden etwas wegradiert und neu überschrieben. Das ist deshalb möglich, weil mittelalterliche Urkunden nicht auf Papier geschrieben wurden, sondern auf Pergament, also auf dünner Tierhaut. Mit einem scharfen Messer lässt sich die ursprüngliche Beschriftung wegkratzen. Das nennt man in der Fachsprache Rasur. Man rasiert mit dem Messer nicht den Bart, sondern die Tinte weg. Solche Rasuren kann man aber sehen und selbst hervorragend hergestellte Verfälschungen lassen sich mit heutiger Vergrößerungstechnik durchaus erkennen.

Die Osnabrücker Kaiser- und Königsurkunden
Gerade die Osnabrücker Urkunden, zu denen das Kaiserdiplom Ottos II. von 975 gehört, sind in den letzten 125 Jahren immer wieder geprüft und im wahrsten Sinn des Wortes eingehend „unter die Lupe genommen“ worden. Kaum ein Urkundenbestand ist also so gut untersucht, wie die Osnabrücker Kaiser- und Königsurkunden. Das hängt natürlich auch mit dem enormen Interesse an den zahlreichen Fälschungen und ihrer Geschichte zusammen. Alle Forscher von Franz Jostes über Emil von Ottenthal, Karl Brandi (der übrigens in Meppen geboren wurde), Michael Tangl und Kurt-Ulrich Jäschke bis hin zu Christian Hoffmann und Thomas Vogtherr sind sich einig: An der Urkunde von 975 lassen sich keinerlei Fälschungsspuren finden. Es handelt sich nach heutigem Stand um ein Original und gilt daher als authentisch.

Die geographische Deutung von „Liinga“
Die zentrale Frage des Lingener Jubiläums lautet: Ist das in der Urkunde erwähnte „Liinga“ mit dem heutigen Lingen an der Ems identisch? Diese Gleichsetzung wurde im 19. Jahrhundert infrage gestellt, als Historiker wie Karl Ludwig Philipp Troß alternative Identifikationen für die ebenfalls in der Urkunde genannten Orte „Apalderbach“ und „Hesnon“ mit Dortmund-Aplerbeck und Hamm-Heessen vorschlugen. Da diese drei Orte unter der Verwaltung eines Herzogs Bernhard standen, schien ihre große geografische Entfernung ein Problem darzustellen.
Neuere Untersuchungen lehnen diese Deutungen ab. Troß‘ Argumentation beruht auf Lesefehlern und unzureichend belegten Gleichsetzungen. So handelt es sich beim von ihm vorgeschlagenen „Luncke“ lediglich um ein Missverständnis, das auf einem Lesefehler in einer mittelalterlichen Quelle beruht. Auch andere Alternativvorschläge wie Lünen, Lingen bei Halver oder Hofnamen bei Dortmund konnten sprachlich oder historisch nicht überzeugen.
Die sprachliche Eigenartigkeit des Namens „Liinga“, seine Einmaligkeit in der Region sowie die Tatsache, dass alle genannten Orte Besitz des Osnabrücker Bistums waren und sich somit im Gebiet der Diözese befinden mussten, stützen die Gleichsetzung mit Lingen an der Ems. Auch ist die Identifikation von „Apalderbach“ mit Apeldorn bei Meppen und „Hesnon“ mit einem der vielfach belegten Heesen oder Heeßen im Osnabrücker Raum plausibler.

Die Urkunde von 975 als ältester schriftlicher Beleg Lingens
Der 25. April 975 markiert nicht die Gründung Lingens, sondern lediglich die älteste bislang bekannte schriftliche Erwähnung des Ortsnamens. In der historischen Forschung wird ein Ortsjubiläum auf dieser Basis gefeiert, um ein greifbares Datum für öffentliches Gedenken und historische Bildung zu schaffen. Auch wenn Lingen vermutlich bereits deutlich früher bestand, tritt Lingen vor 1050 Jahren erstmals in das Licht der Geschichte. In der betreffenden Urkunde ist von Ländereien, Hofstellen und Gebäuden die Rede. Das zeigt, dass es sich nicht um die „Gründung“ des Ortes handelt.
Wie alt der Ort namens Lingen wirklich ist, wissen wir nicht. Auch bei Lingen ist die Ersterwähnung reiner Zufall der Überlieferung. Eine Örtlichkeit namens Lingen bestand bereits vor 975. Wie lange, das bleibt ein Geheimnis der Geschichte.

Fazit
Die Urkunde Kaiser Ottos II. von 975 ist ein echtes, vielfach überprüftes Dokument, das zweifelsfrei einen Ort namens „Liinga“ nennt. Alle Indizien sprechen dafür, dass es sich hierbei um das heutige Lingen an der Ems handelt. Damit besitzt das Jubiläum „1050 Jahre Lingen“ eine solide historische Grundlage.
Abbildungen:
Emslandmuseum Lingen